Das Wichtigste in Kürze:

1. Eine Geschwindigkeitsüberschreitung kann nach allgemeinen Grundsätzen gerechtfertigt sein.
2. Der rechtfertigende Notstand hat in der Praxis erhebliche Bedeutung.
3. Geht es um die Frage, ob die Geschwindigkeitsüberschreitung des Arztes auf dem Weg zu einem Notfallpatienten nach § 16 gerechtfertigt ist, verlangen die Obergerichte verhältnismäßig umfangreiche Feststellungen.
4. Nicht selten berufen sich Betroffene darauf, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung begangen worden sei, um von anderen Verkehrsteilnehmern drohende Gefahren bzw. um anderen Verkehrsteilnehmern drohende (Gesundheits-)Gefahren abzuwenden.
5. In der dritten Fallgruppe geht es schließlich um die Frage der Inanspruchnahme von Sonderrechten nach § 35 StVO.
6. Der Verteidiger muss den Betroffenen auf die ggf. drohende Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung hinweisen und zudem bedenken, dass der rechtfertigende Notstand, auch wenn seine Voraussetzungen nicht zu bejahen sind, Auswirkungen auf die Verhängung eines Fahrverbots hat.
 

Rdn 2241

 

Literaturhinweise:

Blum, Rechtfertigungsgründe bei Verkehrsstraftaten und Verkehrsordnungswidrigkeiten, NZV 2011, 378

Burhoff, Rechtfertigender Notstand im OWi-Verfahren, VA 2005, 162

Deutscher, Bußgeldrechtliche Auswirkungen des § 35 StVO, VRR 2006, 447

Dickmann, Sonderrechte mit Privat-Pkw? Problematik des § 34 StVO für Mitglieder der freiwilligen Feuerwehren, NZV 2003, 220

Krumm, Notstandsähnliche Situationen und notstandsbezogene Irrtümer beim Regelfahrverbot nach Geschwindigkeitsverstoß, DAR 2012, 606

Lehmann, Armer Rettungsdienst! – Die Schlechterbehandlung des Rettungsdiensts nach § 35 Va StVO gegenüber Institutionen nach § 35 I StVO verstößt gegen Art. 3 I GG, NZV 2011, 228

Mitsch, Geschwindigkeitsüberschreitung bei privater Rettungsfahrt Zugleich Besprechung zu einer Entscheidung des OLG Düsseldorf, Beschl. v. 8.3.2021 – 2 RBs 13/21, DAR 2022, 115

Müller, Das Wegrecht ist kein Freifahrtschein, VD 2000, 273

ders., Rechtslage und Rechtsprobleme beim Wegrecht, VD 2002, 368

Stollenwerk, Gerechtfertigter Notstand im Sinne des Ordnungswidrigkeitenrecht, VD 1996, 189

s. auch die Hinw. bei → Geschwindigkeitsüberschreitung, Urteil, Allgemeines, Rdn 2180.

 

Rdn 2242

1.a) Eine Geschwindigkeitsüberschreitung kann nach allgemeinen Grundsätzen gerechtfertigt sein. In der Praxis von Bedeutung ist – ebenso wie beim Rotlichtverstoß (→ Rotlichtverstoß, Urteil, rechtfertigender Notstand, Rdn 3418) – insbesondere der rechtfertigende Notstand nach § 16. Dieser findet nach allgemeiner Meinung auch bei der Verletzung von Verkehrsvorschriften Anwendung (vgl. z.B. BayObLG DAR 1992, 368; OLG Celle VRR 4/2015, 15; OLG Düsseldorf VRS 82, 204; Beschl. v. 8.3.2021 – 2 RBs 13/21, NStZ 2021, 616 = NZV 2021, 436; OLG Köln NZV 2005, 595 = DAR 2005, 574 = VRS 109, 45; Beck/Berr/Schäpe, Rn 464 ff. m.w.N.; Blum NZV 2011, 378).

 

Rdn 2243

b) Der Rechtfertigungsgrund des rechtfertigenden Notstands i.S.d. § 16 setzt voraus, dass der Betroffene in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahrenlage für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut gehandelt hat, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden. Allerdings muss bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegen und die Handlung des Betroffenen muss ein angemessenes Mittel für die Gefahrenabwehr gewesen sein (zu Letzterem OLG Bamberg DAR 2014, 394 = VRR 2014, 162 [Ls.; Geschwindigkeitsüberschreitung schon nicht das zur Gefahrenabwehr – Verhinderung der Verunreinigung des Fahrgastraums durch Erbrechen – geeignete Mittel]; OLG Celle VRR 4/2015, 15; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 8.3.2021 – 2 RBs 13/21, NStZ 2021, 616 = NZV 2021, 436). Wegen der allgemeinen Voraussetzungen im Einzelnen wird auf die Kommentierungen bei Göhler/Gürtler, § 16 Rn 1 ff. und bei KK/Rengier, § 16 Rn 1 ff., jew. m.w.N., verwiesen. Hier sollen nur die Besonderheiten dieses Rechtsfertigungsgrundes im Hinblick auf eine Geschwindigkeitsüberschreitung dargestellt werden.

 

Rdn 2244

2. Der rechtfertigende Notstand hat erhebliche praktische Bedeutung (Göhler/Gürtler, § 16 Rn 1). Im Bereich der Geschwindigkeitsüberschreitung haben sich im Wesentlichen drei Fallgruppen herausgebildet, und zwar die Geschwindigkeitsüberschreitung des Arztes, der wegen eines Notfalls zu einem Patienten gerufen wird (dazu Rdn 2245), dann die Abwehr von anderen Verkehrsteilnehmern drohenden Gefahren bzw. die Abwehr ihnen bzw. anderen drohender (Gesundheits-)Gefahren (dazu Rdn 2247) und schließlich die Inanspruchnahme von Sonderrechten nach § 35 StVO (dazu Rdn 2250).

 

☆ Allgemein gilt: Wenn der Betroffene das Vorliegen eines rechtfertigenden Notstands als Verteidigung gegen den ihm gemachten Vorwurf geltend macht, muss sich der Tatrichter damit auseinandersetzen und im Urteil dazu entsprechende Feststellungen treffen (vgl. u.a. OLG Hamm VA 2005, 88; OLG Karlsruhe NZV 2005, 54; OLG Köln NZV 2005, 595 = DAR ...

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