Leitsatz
- Umsätze wie die im Ausgangsverfahren fraglichen sind, selbst wenn sie ausschließlich in der Absicht getätigt werden, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen, Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen und eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5Absatz 1 und 6Absatz 1 der 6. EG-Richtlinie, wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, auf denen diese Begriffe beruhen.
Die 6. Richtlinie ist dahin auszulegen, dass sie dem Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen.
Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis erfordert zum einen, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der 6. EG-Richtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderlaufen würde. Zum anderen muss auch aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.
- Ist eine missbräuchliche Praxis festgestellt worden, so sind die diese Praxis bildenden Umsätze in der Weise neu zu definieren, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis begründenden Umsätze bestanden hätte.
Problematik
Der kompliziert gestaltete Vorlage-Sachverhalt aus Großbritannien hat im Wesentlichen folgende Grundzüge:
Eine Bank mit nahezu ausschließlich steuerfreien Umsätzen, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten, wollte an verschiedenen Orten in Großbritannien auf ihr zustehenden Grundstücken sog. Call-Center errichten. Über mehrschichtige Vertragswerke mit Tochtergesellschaften (Grundstücks-Erschließungsgesellschaften) versuchte sie, die Mehrwertsteuer-Belastung möglichst gering zu halten.
Mit einer Tochtergesellschaft (Tochter 1) vereinbarte sie die Gewährung von Darlehen, mit deren Hilfe sie diese Erschließungsarbeiten durchführen konnte. Zudem verpflichtete sich die Bank zu Zahlungen an Tochter 1, damit diese Bauarbeiten an den Grundstücken ausführe. Über die Zahlungen erteilte ihr die Tochter Mehrwertsteuerrechnungen.
Weiter vereinbarte die Bank mit Tochter 1 eine langfristige Verpachtung (umsatzsteuerfrei). Tochter 1 trat die Pachten an Tochter 3 ab. Tochter 3 verpflichtete sich zur "Unterverpachtung" an die Bank.
Ferner übertrug Tochter 1 die mit der Bank vereinbarten Bauarbeiten an Tochter 3; diese beauftragte unabhängige Bauunternehmen damit. Die bezweckten MwSt-Vorteile der Gestaltung (Vorsteuerabzugsmöglichkeiten der Bank und ihrer Töchter) waren an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen nach nationalem Recht geknüpft.
Die Finanzbehörden lehnten die Vorsteueransprüche der Töchter ab. Bei einer Gesamtbetrachtung seien die Bauleistungen unmittelbar von den unabhängigen Bauunternehmen an die Bank ausgeführt worden. Das vorlegende Gericht fragte den EuGH auch nach der Auslegung der 6. EG-Richtlinie nach Missbrauchs-Grundsätzen.
Konsequenzen für die Praxis
Nach dem Urteil gilt das "Verbot missbräuchlicher Praktiken" auch im Mehrwertsteuerrecht.
Die Grundsätze des Rechtsmissbrauchs sind im Weg der Auslegung der 6. EG-Richtlinie anzuwenden. Das Urteil bezeichnet die Voraussetzungen für die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis. Ebenso umschreibt es die Rechtsfolgen der Feststellung.
Für die weitere Anwendung des § 42 AO im deutschen Umsatzsteuerrecht folgt aus der Entscheidung: Die Bestimmung missbräuchlicher Gestaltungen im Umsatzsteuerrecht richtet sich grundsätzlich nach den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Als Vorschrift des nationalen allgemeinen Abgabenrechts kann sie im gemeinschaftsrechtlichen Mehrwertsteuerrecht nur "richtlinienkonform" gelten, d. h. nur in dem Umfang, der durch den Rahmen der EuGH-Grundsätze vorgegeben ist.
Insofern dürfte sich - bei der ohnehin zurückgenommenen Holzhammermethode zur Missbrauchsbekämpfung im Umsatzsteuerrecht mit § 42 AO in der jüngeren BFH-Rechtsprechung - nichts grundlegend Neues ergeben.
Link zur Entscheidung
EuGH (Große Kammer), Urteil v. 21.2.2006, C-255/02, - Halifax plc u. a. -, DStR 2006 S. 420.