Allein aufgrund der Richtlinie besteht für Arbeitgeber in Deutschland noch kein konkreter Handlungsbedarf. Die Richtlinie muss erst durch ein nationales Gesetz umgesetzt werden. Der deutsche Gesetzgeber wird hierfür aber voraussichtlich nicht die dreijährige Umsetzungsfrist voll ausschöpfen müssen, denn seit 2017 besteht in Deutschland bereits das Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG), um den Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche oder gleichwertige Arbeit" für Frauen und Männer in der Praxis durchzusetzen. Es ist auch nicht zu erwarten, dass es im nationalen Recht lange Einführungsfristen geben wird, da die Richtlinie in ihren Forderungen einen hohen Detailgrad aufweist und somit absehbar ist, was der deutsche Gesetzgeber regeln muss und wird.
Lange führte das EntgTranspG ein weitgehend unbeachtetes Nischendasein, zuletzt hat das Bundesarbeitsgericht aber in zwei Entscheidungen dem Thema Entgeltgleichheit Vorschub geleistet. Mit Urteil vom 16. Februar 2023 bestätigte das BAG, dass bei bestehender Entgeltungleichheit der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast trage, also objektive und diskriminierungsfreie Gründe vortragen müsse, die diesen Unterschied rechtfertigen (BAG, Urteil v. 16.2.2023, 8 AZR 450/21). Das BAG hatte schon zuvor mit seinem Urteil vom 21.1.2021 (8 AZR 488/19) aufgezeigt, dass eine unterschiedliche Vergütung für gleiche oder gleichwertige Arbeit zwischen den Geschlechtergruppen eine Vermutung unzulässiger Diskriminierung wegen des Geschlechts darstellt. Auch das in der Praxis verbreitete Argument des besseren "Verhandlungsgeschicks" des männlichen Kollegen ist aus Sicht des BAG nicht geeignet, einen Unterschied zu rechtfertigen, da das Verhandlungsgeschick nichts mit der Arbeitsleistung von Mitarbeitenden zu tun habe.
Die aktuelle Rechtsprechung verknüpft also bereits die Entgeltsystematik und die konkrete Vergütungshöhe mit der Geschlechtsdiskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Das AGG sieht in § 22 jetzt schon vor, dass bei Vorliegen von Indizien einer Benachteiligung der Arbeitgeber die volle Beweislast dafür trägt, dass kein geschlechterdiskriminierender Verstoß vorliegt.
Insofern ist allen, insbesondere aber Arbeitgebern ohne festgeschriebenes Vergütungssystem (aber mit Betriebsrat) anzuraten, die von der Richtlinie vorgegebenen Kriterien für objektive Vergütungssysteme heranzuziehen und die betriebliche Vergütungspraxis daraufhin zu prüfen und anzupassen. Denn schon vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung ist zu erwarten, dass einzelne Arbeitnehmer und Betriebsräte Vergütungsfragen verstärkt infrage stellen werden.
Auch die betrieblichen Prozesse zur erweiterten Auskunftserteilung sollten überprüft werden, wobei jährliche Informationsmaßnahmen nicht unbekannt sein dürften. So sind die Beschäftigten bereits jetzt etwa zur Vermeidung unverfallbarer Urlaubsansprüche jährlich über das Urlausrecht aufzuklären.
Die Arbeit in diese "Richtlinien-Compliance" lohnt sich doppelt für diejenigen Unternehmen, die dem erweiterten Corporate Sustainibility Reporting (CSR) unterliegen, da hier Berichtspflichten zum Thema Chancengleichheit und Gleichberechtigung aufgenommen wurden.