Entscheidungsstichwort (Thema)
Erlass von Gewerbesteuer aus Billigkeitsgründen
Tenor
1. Die Entscheidung der Behörde gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 der Reichsabgabenordnung darüber, ob die Einziehung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, ist von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen. Der Maßstab der Billigkeit bestimmt Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens.
2. Es liegt nicht innerhalb des der Behörde zustehenden Ermessensspielraums, die Heranziehung eines Versicherungsgeneralagenten mit gemischter Tätigkeit zur Gewerbesteuer mit den aus verwaltender Tätigkeit erwirtschafteten Erträgen für die Jahre vor 1962 nicht als unbillig im Sinne des § 131 Abs. 1 Satz 1 der Reichsabgabenordnung anzusehen.
Tatbestand
I.
Der Kläger (Steuerpflichtige) begehrt den teilweisen Erlaß von Gewerbesteuer 1959 bis 1961. Er ist Zahlstellenverwalter einer Versicherungsgesellschaft mit sogenannter „gemischter Tätigkeit” und wurde entsprechend der früheren Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (RFH) und Bundesfinanzhofs (BFH), von der auch noch die Gewerbesteuer-Richtlinien (GewStR) 1958 ausgehen (Abschn. 11 Abs. 3), bis einschließlich 1958 nur mit etwaigen Umsätzen und Einkünften aus einer der Vermittlung von Versicherungsverträgen dienenden Tätigkeit zur Umsatzsteuer und Gewerbesteuer herangezogen, nicht dagegen mit seinen Umsätzen und Einkünften aus der sich mit der Verwaltung bestehender Verträge befassenden Tätigkeit. Nachdem der BFH durch das Urteil I 200/59 S vom 3. Oktober 1961 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 73 S. 827 –BFH 73, 827–, BStBl III 1961, 567) für die Gewerbesteuer und durch das Urteil V 133/59 U vom 12. April 1962 (BFH 74, 699, BStBl III 1962, 259) für die Umsatzsteuer unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung entschieden hatte, daß für die Frage der Selbständigkeit und damit der Gewerbesteuer- und Umsatzsteuerpflicht eines Versicherungsvertreters die Art der entfalteten Tätigkeit nicht von entscheidender Bedeutung sei, setzte das Finanzamt (FA) im Anschluß an eine Betriebsprüfung für 1959 durch berichtigten und für 1960 und 1961 durch erstmaligen Gewerbesteuer-Meßbescheid die Gewerbesteuer-Meßbeträge unter Einbeziehung auch der Erträge aus der Verwaltungstätigkeit fest. Der Beklagte (die Stadt) erließ daraufhin für die Jahre 1959 bis 1961 entsprechende Gewerbesteuerbescheide.
Nachdem der Bundesminister der Finanzen (BdF) durch Erlaß vom 5. April 1963 IV a/3-S 4235 A-22/63 für die Umsatzsteuer eine Billigkeitsregelung nach § 131 der Reichsabgabenordnung (AO) getroffen hatte, die dahin ging, zur Vermeidung unbilliger Härten die Grundsätze der geänderten BFH-Rechtsprechung erst für die Zeit ab 1. Januar 1962 anzuwenden (vgl. Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe B –Eildienst– 1963 S. 189; Deutsches Steuerrecht 1962/63 S. 386), beantragte der Steuerpflichtige bei der Stadt, ihm die Gewerbesteuer für 1959, 1960 und 1961 nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AO teilweise zu erlassen, da die Einziehung unbillig sei. Er brachte vor, die neue Rechtsprechung dürfe nicht schon für die Zeit vor ihrem Bekanntwerden, also rückwirkend, verwertet werden. Wenn der BdF die Anwendung der Grundsätze der geänderten Rechtsprechung für die Zeit vor deren Bekanntwerden hinsichtlich der Umsatzsteuer für unbillig erachte, dann dürfe die Stadt hinsichtlich der Gewerbesteuer keinen anderen Standpunkt einnehmen.
Die Stadt entsprach, dem Antrag des Steuerpflichtigen nur hinsichtlich der Gewerbesteuer für 1959, lehnte aber einen Steuererlaß für die Jahre 1960 und 1961 ab und bewilligte lediglich Ratenzahlungen. Auf die Klage hob das Verwaltungsgericht die den Steuererlaß ablehnenden Bescheide der Stadt auf und verpflichtete diese, den Erlaßantrag des Steuerpflichtigen neu zu bescheiden. Auf die Berufung der Stadt wies das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen die Klage ab. Das Berufungsgericht wertete den Begriff „unbillig” in § 131 Abs. 1 Satz 1 AO als einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Anwendung von den Gerichten in vollem umfange nachgeprüft werden könne, hielt aber mit der Stadt die Heranziehung des Steuerpflichtigen zur vollen Gewerbesteuer nicht für eine unbillige Härte. Zur Begründung führte es aus, der Steuerpflichtige könne einen. Erlaß der sich nach der neueren Rechtsprechung des BFH ergebenden Gewerbesteuer für die Jahre 1960 und 1961 nicht aus dem Grunde verlangen, weil ihm das FA die Umsatzsteuer für diese Jahre erlassen habe. An den Erlaß des BdF vom 5. April 1963, auf den dies zurückgehe, sei der Beklagte ebensowenig gebunden wie an das Verhalten anderer Gemeinden. Nach nunmehr als richtig erkannter Rechtsauffassung entspräche gerade erst die erweiterte Besteuerung der Versicherungsvertreter dem Gesetz. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze über das Verbot rückwirkender Abgabengesetze seien auf Entscheidungen der Gerichte nicht anwendbar. Das Vertrauen des Bürgers auf die Beibehaltung einer b...