Rz. 1
Nach § 704 ZPO findet die Zwangsvollstreckung nicht nur aus rechtskräftigen, sondern auch aus für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteilen statt. Für bestimmte Fälle (z. B. § 62 Abs. 1 S. 1 ArbGG) ordnet das Gesetz bereits an, dass ein Urteil vorläufig vollstreckbar ist. Im Übrigen ist es Sache des Gerichts, die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils anzuordnen. Dies setzt voraus, dass das Urteil einen vollstreckungsfähigen Inhalt hat (OLG Stuttgart, GRUR 2019, 422).
Die Bestimmung des § 708 ZPO fasst Fallgruppen zusammen, in denen Urteile nach der Zivilprozessordnung für vorläufig vollstreckbar zu erklären sind, ohne dass die Vollstreckbarkeit von einer Sicherheitsleistung des Gläubigers abhängig zu machen ist. Sie enthält eine abschließende Aufzählung und findet keine Anwendung auf Beschlüsse, die – soweit sie einen vollstreckbaren Inhalt haben – nach § 794 Abs. 1 Nr. 3 ZPO (ohne Sicherheitsleistung) vollstreckbar sind (OLG Frankfurt, JurBüro 2021, 142). Der Tenor eines Urteils lautet in diesen Fällen: "Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar." Für die in Nr. 4 bis 11 geregelten Fälle ist dem Schuldner nachzulassen, die Zwangsvollstreckung des Gläubigers gegen Sicherheitsleistung abzuwenden, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet (§ 711 Satz 1 ZPO; Ausnahme: § 713 ZPO).
Die vorläufige Vollstreckbarkeit wird von Amts wegen im Tenor des Urteils angeordnet. Eines entsprechenden Antrags bedarf es nicht; er ist überflüssig. Das schließt allerdings nicht aus, dass die Parteien die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit durch eigene Anträge nach den §§ 710, 711 Satz 3 und 712 ZPO beeinflussen können. Grundsätzlich sind zunächst sämtliche Urteile für vorläufig vollstreckbar zu erklären. Eine Ausnahme gilt allerdings für Urteile, die mit ihrer Verkündung rechtskräftig werden und diejenigen Urteile, durch die eine einstweilige Anordnung oder ein Arrest erlassen oder bestätigt wird, weil die letztgenannten Urteile nach allgemeiner Auffassung die vorläufige Vollstreckbarkeit "in sich tragen", ihnen immanent ist (vgl. Gottwald, JA 1997, 486).
Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit dient den Interessen der Gläubiger an einem möglichst schnellen Zugriff auf das schuldnerische Vermögen im Wege der Zwangsvollstreckung. Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit erlaubt die Vollstreckung vor Eintritt der Rechtskraft des Titels und schützt damit den Gläubiger vor den drohenden wirtschaftlichen Nachteilen aussichtsloser und nur zum Zwecke der Verzögerung eingelegter Rechtsmittel. Erlangt der Gläubiger aufgrund der Zwangsvollstreckung aus einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil tatsächlich die geschuldete Leistung, tritt hierdurch nach der h. M. keine Erfüllung i. S. d. § 362 BGB ein (BGH, Urteil v. 10.6.2020, V ZR 226/19,, juris). Die Kehrseite dieses Vorteils ist allerdings, dass der Gläubiger das Risiko trägt, im Falle der späteren Änderung oder gar Aufhebung des Titels für denjenigen Schaden, der dem Schuldner durch die Vollziehung des vorläufig vollstreckbaren Titels entstanden ist, zu haften (§ 717 Abs. 2 ZPO).
Unterfallen nur Teile des vollstreckungsfähigen Urteilsausspruchs einem Katalogtatbestand von § 708 ZPO, ist die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit entsprechend nach einzelnen Gläubigern und/oder Streitgegenständen aufzugliedern. Zum Beispiel ist im Falle eines Teilanerkenntnisses für den betreffenden Teil Nr. 1, im Übrigen ggf. ein anderer Fall von § 708 ZPO oder die Regelung in § 709 ZPO anzuwenden. Erweist sich bei Säumnis des Beklagten z. B. die Klage nur teilweise als schlüssig, gilt für den Kläger § 708 Nr. 2 ZPO, soweit der Klage stattgegeben wird; für den Beklagten gilt ggf. ein anderer Fall von § 708 ZPO (z. B. Nr. 11) oder § 709 ZPO (vgl. BeckOK ZPO/Ulrici, § 708 Rn. 10).
Soweit mehrere Katalogtatbestände von § 708 ZPO zugleich einschlägig sind (z. B. Anerkenntnisurteil eines Berufungsgerichts in einer vermögensrechtlichen Streitigkeit, § 708 Nr. 1 und 10 ZPO, oder Verzichtsurteil mit Bagatellkostenfolge, § 708 Nr. 1 und Nr. 11 ZPO), verdrängt die für den Gläubiger günstigere Regelung (§ 708 Nr. 1–3 ZPO, weil keine Abwendungsbefugnis) die jeweils andere. § 708 Nr. 11 ZPO ist bereits seinem Wortlaut nach nachrangig zu allen übrigen Tatbeständen ("andere Urteile"; vgl. BeckOK ZPO/Ulrici, § 708 Rn. 11).