1 Grundsatz – Zweck
Rz. 1
Der Gläubiger kann aus den in der Bestimmung des § 708 ZPO abschließend aufgeführten Titeln vor Eintritt der Rechtskraft ohne Sicherheitsleistung die Zwangsvollstreckung betreiben. Das Gesetz hat die Besonderheiten der dort im Einzelnen näher bezeichneten Titel als ausreichend angesehen, die Vollstreckung bewusst zu erleichtern, indem es die Gläubigerinteressen bevorzugte. Uneingeschränkt allerdings hat es die Bevorzugung der Gläubigerinteressen lediglich in den Fällen des § 708 Nr. 1 bis 3 ZPO ausgesprochen. Für die übrigen Fälle – und nur für diese – (Nr. 4 bis 11 des § 708 ZPO) wird die Bevorzugung relativiert: § 711 ZPO eröffnet dem Schuldner die Möglichkeit, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abzuwenden. Er kann damit die Durchführung der Zwangsvollstreckung vorübergehend blockieren. Diese Abwendungsbefugnis allerdings ist nicht absolut gegeben, sondern wird durch die Sicherheitsleistung des Gläubigers vor der Zwangsvollstreckung (Pfälzisches OLG Zweibrücken, InVo 1999, 254 = JurBüro 1999, 494) ausgeräumt (Zöller/Herget, § 711 Rn. 1). Dem Gläubiger ist daher die Vollstreckung trotz der Abwendungsbefugnis des Schuldners unter den gleichen Voraussetzungen wie bei § 709 Satz 1 ZPO – eigene Sicherheitsleistung – möglich. Im Ergebnis kann der Schuldner vermittels der Sicherheitsleistung die Zwangsvollstreckung durch den Gläubiger nicht – endgültig – abwenden und verhindern. Allerdings hat der Schuldner die Möglichkeit, dem Gläubiger die – zunächst nicht vorgesehene (§ 708 Nr. 4 bis 11 ZPO) – Sicherheitsleistung abzuverlangen. Satz 2 ermöglicht auch in den Fällen des § 711 ZPO eine vereinfachte Bestimmung der Sicherheitsleistung. Allerdings erhält der Schuldner nicht die Möglichkeit, Teilsicherheiten zu leisten. Da der Gläubiger in diesen Fällen ohne Sicherheitsleistung vollstrecken darf, ist es gerechtfertigt, vom Schuldner zu verlangen, dass er in Höhe des gesamten vollstreckbaren Betrags Sicherheit leistet, wenn er die Zwangsvollstreckung abwenden will. Können beide Parteien aus einem Urteil aufgrund des § 708 Nr. 4-11 ZPO vollstrecken, kommt auch eine wechselseitige Anordnung einer Abwendungsbefugnis in Betracht.
2 Verfahren
Rz. 2
Die Abwendungsbefugnis ist von Amts wegen in den Tenor des Urteils aufzunehmen, es sei denn, das konkrete Urteil wäre unzweifelhaft mit Rechtsmitteln nicht anfechtbar, § 713 ZPO (OLG Frankfurt, JurBüro 2018, 587; LG Frankfurt, NJW 2018, 996; BeckOK/ZPO-Ulrici, § 711 Rn. 4). Ein entsprechender Antrag ist überflüssig. Der Tenor lautet (üblicherweise): "Dem Kläger/Beklagten wird gestattet, die Zwangsvollstreckung des Beklagten/Klägers gegen Sicherheitsleistung in Höhe von EUR ... abzuwenden, wenn nicht der Beklagte/Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet" oder "Der Beklagte kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet" (bei Anwendung des Satz 2). Es sind auch andere prozentuale Zuschläge denkbar (vgl. Zöller/Herget, § 711 Rn. 2). Die Höhe der Sicherheitsleistung ist zu beziffern. Der Schuldner hat entweder die bezifferte Sicherheit zu leisten oder eine in einem bestimmten Verhältnis zur "Höhe des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages" (Satz 2 i. V. m. § 709 S. 2 ZPO), der sich dann mit der Bezifferung decken sollte. Die Entscheidung ist Bestandteil des Urteils und deshalb nur mit den hierfür vorgesehenen Rechtsmitteln – nicht isoliert – anfechtbar. Das Berufungsgericht kann die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit nach § 718 ZPO vorab verhandeln und entscheiden; insoweit bedarf es keiner Belehrung nach § 232 ZPO. Offensichtliche Unrichtigkeiten können nach § 319 ZPO berichtigt werden, wenn sich aus den Gründen zweifelsfrei entnehmen lässt, dass der im Tenor enthaltene Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit nicht dem Willen des Richters entspricht (KG, MDR 2013, 1487). Fehlt eine Entscheidung über die Abwendungsbefugnis, so kann auf Antrag Ergänzungsurteil gem. den §§ 716, 321 ZPO (BGH, WuM 2018, 221) ergehen.
3 Sicherheitsleistung oder Hinterlegung
Rz. 3
Der Regelfall in der Praxis ist die Anordnung einer Sicherheitsleistung. Die Höhe der Sicherheit ist auch hier so zu bemessen, dass derjenige Schaden abgedeckt ist, der durch den Aufschub der Vollstreckung entstehen kann und nicht auf den Verzögerungsschaden beschränkt ist (Zöller/Herget, § 711 Rn. 2). Weil es in diesen Fällen regelmäßig um die Erfüllung geht, sind zur Höhe die Grundsätze zu § 709 ZPO (vgl. § 709 Rn. 2) anwendbar. Stets ist zu bedenken, dass die Sicherheitsleistung den Gläubiger gegen den vollständigen Ausfall absichern muss (vgl. OLG Stuttgart, NotBZ 2013, 281). Mit Hinterlegung, die das Gericht nach seinem Ermessen auch anordnen kann, ist die Möglichkeit gemeint, zur Abwendung der Zwangsvollstreckung von Herausgabeansprüchen oder Lieferansprüchen den geschuldeten Gegenstand zu hinterlegen (vgl. BGH, MDR 2018, 764). E...