1 Grundsatz – Zweck
Rz. 1
Die Bestimmung betrifft die widerstreitenden Interessen von Gläubiger und Schuldner, wenn der Bestand eines vorläufig vollstreckbaren Urteils wegen der Einlegung eines Rechtsmittels oder Einspruchs ungewiss ist. Es muss sich der Schuldner vor den Folgen einer Zwangsvollstreckung schützen können, andernfalls seinem Rechtsmittel oder Einspruch die Effektivität genommen würde. Andererseits müssen auch die Interessen des Gläubigers berücksichtigt werden, weshalb die Durchsetzung des zu vollstreckenden Anspruchs im Interesse der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes nicht mehr als notwendig verzögert werden darf. Den Ausgleich dieser widerstreitenden Interessen löst die Bestimmung durch die entsprechende Anwendbarkeit des § 707 ZPO in Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Vorschrift findet auch im Fall der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 544 Abs. 5 Satz 2 ZPO) Anwendung und dann, wenn sich die Berufung gegen ein Urteil richtet, das einen Arrest oder eine einstweilige Verfügung erlassen oder bestätigt hat (§§ 922 Abs. 1, 925 Abs. 1, 936 ZPO; OLG München, ZInsO 2018, 2045) und nicht für vorläufig vollstreckbar erklärt wurde, weil diese Urteile auch ohne Anordnung vorläufig vollstreckbar sind (immanente Vollstreckbarkeit). Gem. § 62 Abs. 1 Satz 3 ArbGG ist die Bestimmung auch im Verfahren vor den Arbeitsgerichten anwendbar (LAG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss v.20.6.2018, 5 Sa 72/18 – Juris). Auch wenn erst nach Einlegung der Berufung ein Umstand eintritt, der einem Weiterbeschäftigungsanspruch entgegenstehen könnte, kann die Zwangsvollstreckung nur dann vorläufig eingestellt werden, wenn die Vollstreckung dem Beklagten einen nicht zu ersetzenden Nachteil i. S. d. § 62 Abs. 1 Satz 2 ArbGG bringen würde (LAG Baden-Württemberg, NZA-RR 2018, 100). Ein in der Berufungsschrift gestellter Auflösungsantrag des Arbeitgebers rechtfertigt es nicht allein, die Zwangsvollstreckung aus einem Weiterbeschäftigungstitel einzustellen LAG Rheinland-Pfalz, Beschluss v.18.7.2016, 5 Sa 271/16 -Jjuris). Es kann sowohl hinsichtlich der Voraussetzungen für den Antrag, der Entscheidung des Gerichts, der Abänderung und Anfechtbarkeit der Entscheidung als auch bezüglich der Kosten und Gebühren auf die Ausführungen zu § 707 ZPO verwiesen werden. Festzuhalten bleibt auch hier, dass die Bestimmung bei Urteilen im Verfahren der EuGFVO (§ 1105 Abs. 1 Satz 2 ZPO) keine Anwendung findet und in Ehe- und Familienstreitsachen die Vorschrift des § 120 Abs. 1 FamFG mit Differenzierungen in § 120 Abs. 2 und 3 FamFG auf die Norm verweist.
Abs. 2 spannt den Bogen weiter und lässt unter verschärften Bedingungen die Einstellung der Zwangsvollstreckung auch im Revisionsrechtszug zu (MünchKomm/ZPO-Götz, § 719 Rn. 1, 2). Diese "verschärften" Bedingungen knüpfen die Einstellung in der Revisionsinstanz an die Voraussetzungen, dass dem Schuldner die Vollstreckung einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde und nicht gleichwohl ein überwiegendes Interesse des Gläubigers die Aufrechterhaltung der Vollstreckbarkeit gebietet. Abs. 2 verdrängt Abs. 1 als eine von § 707 ZPO losgelöste Bestimmung (BeckOK ZPO/Ulrici, § 719 Rn. 1).
2 Die Regelung des Abs. 1
2.1 Allgemeines – Berufung
Rz. 2
Durch die Verweisung auf § 707 ZPO ist im Falle der Berufung gegen ein für vorläufig vollstreckbares Urteil die Einstellung der Zwangsvollstreckung unter den Voraussetzungen des § 707 ZPO möglich (vgl. die Ausführungen zu § 707 ZPO). Neben dem Antrag des Schuldners ist Zulässigkeitsvoraussetzung eine statthafte Berufung und ein Rechtsschutzinteresse. Antragsberechtigt ist der Schuldner, der die Berufung eingelegt hat. Hat der Gegner Anschlussberufung eingelegt, ist auch er antragsberechtigt. Der Antrag kann erst gestellt werden, wenn tatsächlich gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung eingelegt wurde. Die Berufung muss sich gegen ein für vorläufig für vollstreckbar erklärtes Urteil wenden. Deshalb sind Urteile, die mit der Verkündung rechtskräftig werden aus dem Anwendungsbereich ausgenommen. Ob das Urteil im Einzelfall einen vollstreckbaren Inhalt hat, ist ohne Bedeutung, weil dem Schuldner nicht zugemutet werden kann, einen Vollstreckungsversuch des Gläubigers abzuwarten (MünchKomm/ZPO-Götz, § 719 Rn. 3). Im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens ist der Antrag nicht zulässig (OLG Düsseldorf, JMBINW 1970, 326). Grundsätzlich steht dem Antrag in der Berufungsinstanz nicht entgegen, dass in erster Instanz kein Antrag nach § 712 ZPO gestellt worden ist (anders als in der Revisionsinstanz; OLG Frankfurt, Beschluss v. 6.2.2017, 2 U 174/16 – Juris; MDR 2013, 924). Wird der Antrag allein mit Umständen begründet, die schon in der ersten Instanz vorlagen, dort einen Antrag nach § 712 ZPO, der unterblieben ist, gerechtfertigt hätten, ist er ebenfalls unzulässig, da er darauf hinausliefe, außerhalb der Regelung des § 718 ZPO den unterbliebenen Antrag nachzuholen (h. M. OLG Frankfurt/Main, Beschluss v. 23.8.2011 – 11 U 68/11; OLG Koblenz, FamRZ 2000, 1165; OLG Köln, InVo 1997, 167 = JurBüro 1997, 553; OLG Frankfurt/Main, NJW 1984, 2955; NJW-RR 1986, 486...