1. Allgemeines
Rz. 67
Eine indirekte Einschränkung der Testierfreiheit, die in England weder durch Noterb- noch durch Pflichtteilsrechte beschränkt ist, ergibt sich aus dem Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975, aufgrund dessen die Gerichte im Einzelfall eine Versorgung naher Angehöriger aus dem Nachlass (sog. family provisions) anordnen können. Eine Besonderheit dieser Regelung ist, dass eine Anordnung nicht nur bei testamentarischer, sondern auch bei gesetzlicher Erbfolge getroffen werden kann, was insbesondere für Personen, die antragsberechtigt sind, aber nicht zu den gesetzlichen Erben gehören, und für Kinder im Hinblick auf die starke Stellung des Ehegatten im gesetzlichen Erbrecht von Bedeutung sein kann.
Rz. 68
Aus deutscher Sicht dürften die family provisions gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. h) EuErbVO in den Anwendungsbereich der EuErbVO fallen. Auch wenn sie unterhaltsähnlichen Charakter haben, greift der Ausschluss des Art. 1 Abs. 2 Buchst. e) EuErbVO nicht ein, da sie erst mit dem Tod des Erblassers entstehen.
2. Voraussetzungen
Rz. 69
Für die Anordnung von family provisions müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
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Der Erblasser muss sein letztes Domizil in England oder Wales gehabt haben; das Domizil des Antragstellers ist dagegen unerheblich. Eine Anordnung des Gerichts kann daher nie erfolgen, wenn das letzte domicile des Erblassers in Deutschland war und englisches Recht für die Erbfolge nur aufgrund einer Rechtswahl nach Art. 22 EuErbVO zur Anwendung kommt. Dies gilt selbst dann, wenn unbewegliches Vermögen in England belegen ist, für das auch aus englischer Sicht englisches Erbfolgerecht zur Anwendung kommt. |
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Die Anordnung muss binnen sechs Monaten nach Bestellung des personal representative beim Gericht beantragt werden. Diese kurze Antragsfrist erklärt sich aus der gesetzlichen Intention, den Nachlassabwicklern zügig einen Überblick über die Nachlassverbindlichkeiten zu verschaffen. Das Gericht kann spätere Klagen zulassen, z.B. wenn die Klage rechtzeitig angekündigt war oder die Beteiligten verhandelt haben, ohne den Fristablauf zu rügen. Waren Beteiligte anwaltlich beraten, wird dies jedoch i.d.R. nicht gewährt. |
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Antragsberechtigt sind der Ehegatte des Erblassers (bzw. entsprechend der civil partner), ein früherer Ehegatte, der nicht wiederverheiratet ist, die Kinder und diejenigen Personen, die der Erblasser wie Kinder behandelt hat (z.B. Stiefkinder) oder die unmittelbar vor dem Tod vom Erblasser unterhalten worden sind (z.B. der nichteheliche Partner). Der Anspruch auf family provisions ist ein höchstpersönliches Recht, das nicht übertragbar oder vererbbar ist; verstirbt der Antragsteller vor Erlass der Anordnung, erlischt der Anspruch. |
Rz. 70
Die Klage kann bei einem beliebigen County Court (die in diesem Bereich keiner betragsmäßigen Zuständigkeitsbegrenzung mehr unterliegen) oder der Family Division oder der Chancery Division des High Court erhoben werden. Die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen wie auch für die Begründetheit der Klage obliegt dem Antragsteller, so dass Zweifel (z.B. über das Domizil des Erblassers) zu seinen Lasten gehen.
3. Begründetheit der Klage
Rz. 71
Eine Klage auf family provisions ist begründet, wenn das Testament oder die gesetzliche Erbfolge zu keiner angemessenen finanziellen Versorgung des Antragstellers (reasonable financial provision) führt. Bei der Prüfung dieser Voraussetzung hat das Gericht alle Umstände des Einzelfalles einzubeziehen, wie z.B. die derzeitige und künftige finanzielle Situation des Klägers, anderer Antragsteller und der Erben, der Umfang des Reinnachlasses, die persönlichen Verhältnisse des Klägers und das Verhalten der Beteiligten vor und nach dem Tod.
Rz. 72
Im Übrigen wird b...