Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Die Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes durch die Instanzgerichte spielt in der Rspr. der Obergerichte, vor allem der des BVerfG, eine besondere Rolle. |
2. |
Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates verstärkt sich mit zunehmender Dauer der U-Haft. |
3. |
Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ist nach der Rspr. des BVerfG auch dann anzunehmen, wenn die Verfahrensverzögerung darauf beruht, dass ein Urteil wegen einer Verfahrensfehlers aufgehoben werden musste. |
4. |
Die Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes ist verfahrensabschnittsbezogen zu prüfen. Dabei sind die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zugrunde zu legen. |
5. |
Der Beschleunigungsgrundsatz gilt nicht nur, wenn die U-Haft vollzogen wird, sondern auch, wenn der HB außer Vollzug gesetzt ist oder er, z.B. weil Überhaft notiert ist, nicht vollzogen wird. |
6. |
Wird das Verfahren nicht beschleunigt betrieben, muss der HB aufgehoben werden. |
Rdn 2631
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Haftprüfung durch das OLG, Allgemeines, Teil H Rdn 2626, und bei → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil U Rdn 4650.
Rdn 2632
1.a) Die Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes durch die Instanzgerichte spielt in der Rspr. der Obergerichte, vor allem der des BVerfG, eine besondere Rolle (dazu z.B. [grundlegend] BVerfG NJW 2005, 2612 [Ls.]; 2005, 3485; 2006, 668; 2006, 672; 677; 2006, 1336; Beschl. v. 11.6.2018 – 2 BvR 819/18, NJW 2018, 2948; StV 2006, 251; 703; 2009, 479 m. zust. Anm. Hagmann StV 2009, 592; 2010, 31; 2015, 39 m. Anm. Burhoff StRR 2014, 447; Beschl. v. 1.8.2018 – 2 BvR 1258/18, StV 2019, 111 [Ls.]; Beschl. v. 1.12.2020 – 2 BvR 1853720, NStZ-RR 2021, 50; StRR 2011, 320 m. Anm. Hunsmann; jew. m.w.N.; aus der Rspr. des EGMR, z.B. EGMR NJW 2003, 1439; 2012, 2331; 2015, 3773; Urt. v. 8.3.2018 – 22692/15, NJW 2019, 2143). Grundlage der Rspr. des BVerfG ist Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und die dort garantierte Freiheit der Person. Dieser Freiheitsanspruch ist abzuwägen mit den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen (statt vieler BVerfG NJW 2006, 672 m.w.N.).
Der Beschleunigungsgrundsatz gilt auch während der → Einstweiligen Unterbringung, Teil E Rdn 2271, (KG StV 2016, 828; OLG Celle Nds.Rpfl. 2002, 369) und auch, wenn der Beschuldigte sich in Auslieferungshaft befindet (OLG Karlsruhe StV 2004, 325).
Rdn 2633
b) Die Rspr. des BVerfG zum Beschleunigungsgrundsatz, die für Haftsachen eine erhebliche Bedeutung hat, lässt sich etwa wie folgt zusammenfassen (dazu auch Gaede HRRS 2006, 409; Jahn NJW 2006, 625; Knauer StraFo 2007, 309; Pieroth/Hartmann StV 2008, 276; Franke StV 2010, 433; I. Roxin StV 2010, 528; Liebhart NStZ 2017, 25; SSW-StPO/Herrmann, § 121 Rn 7 ff.; krit. Schmidt NStZ 2006, 313):
Rdn 2634
aa) Allgemein gilt: Das Beschleunigungsgebot erfasst das gesamte Strafverfahren (BVerfG NJW 2005, 2612 [Ls.], NJW 2006, 672, 1336; 2012, 513 [für Unterbringungsverfahren]; StV 2006, 251; 2009, 479; 2011, 31 für Rechtsmittelverfahren; StRR 2011, 320 m. Anm. Hunsmann für Zwischenverfahren; Beschl. v. 22.1.2014 – 2 BvR 2301/13 [Zwischenverfahren]; StRR 2015, 113 m. Anm. Hillenbrand [Strafvollstreckungsverfahren]; Beschl. v. 11.6.2018 – 2 BvR 819/18, NJW 2018, 2948 [Zwischenverfahren]; Beschl. v. 1.8.2018 – 2 BvR 1258/18, StV 2019, 111 [Ls.; Zwischenverfahren]; Beschl. v. 23.1.2019 – 2 BvR 2429/18, NJW 2019, 915 [Hauptverhandlung]; Beschl. v. 1.12.2020 – 2 BvR 1853/20, StV 2021, 170 [Zwischenverfahren]; Beschl. v. 15.7.2019 – 2 BvR 1108/19, NStZ-RR 2019, 350; Beschl. v. 3.2.2021 – 2 BvR 2128/20 [Zwischenverfahren]; u.a. BGH, Beschl. v. 5.10.2018 – StB 45/18; KG StV 2015, 36; 2015, 42 m. Anm. Herrmann StRR 2014, 155 [HV]; NStZ 2018, 426; [Revisionsverfahren beim BGH]; StV 2017, 458 [Ls.]; OLG Bremen StV 2016, 508; 2016, 824; OLG Celle StraFo 2009, 515 [Berufungsverfahren]; StV 2013, 644 [Revisionsverfahren]; StV 2018, 189; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.9.2009 [Zwischenverfahren]; OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 30.6.2022 – 2 HEs 224–227/22, StV 2023, 175 [Ls.]; Beschl. v. 19.7.2023 – 1 Ws 225/23 – 229/23; OLG Hamburg StV 2015, 309 [Protokollgenehmigungen nach HV]; StV 2015, 653 [Ls.]; 2016, 824 [Ls.; Fertigstellung des HV-Protokolls]; OLG Köln StV 2016, 445; StraFo 2015, 323 [u.a. Revisionsverfahren]; OLG Naumburg StV 2009, 482; OLG Schleswig, Beschl. v. 21.9.2021 – 1 Ws 160/21; LG Bonn StraFo 2016, 106 [lange Dauer des Revisionsverfahrens beim BGH]; LG Frankfurt am Main StV 2014, 758). Die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwingt die Strafverfolgungsbehörden (Polizei und StA; dazu BVerfG StV 2007, 644) und Gerichte regelmäßig, dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu berücksichtigen. Dementsprechend ist nach § 120 der HB aufzuheben, wenn die Fortdauer der U-Haft unverhältnismäßig ist (BVerfG StRR 2011, 320 m.w.N.).
☆ Aufzuheben ist der HB schon dann, wenn erkenn...