Detlef Burhoff, Dr. Holger Niehaus
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Augenscheinseinnahme ist die Wahrnehmung von Personen oder Sachen durch einen beliebigen Sinn. |
2. |
Die richterliche Augenscheinseinnahme ist sowohl innerhalb als auch außerhalb der HV möglich. |
3. |
Hauptanwendungsfall der Augenscheinseinnahme ist die diejenige eines Lichtbildes zur Identifizierung des Betroffenen als Fahrer. |
4. |
Das Gericht entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob die Augenscheinseinnahme zur Erforschung der Wahrheit geboten ist. |
5. |
Eine Augenscheinseinnahme ist auch durch Augenscheinsgehilfen möglich. |
Rdn 2389
Literaturhinweise:
Haas, Der Beschuldigte als Augenscheinsobjekt, GA 1997, 368
Krumm, Prozessuale Probleme in Bußgeldsachen mit dem Schaublatt zur Geschwindigkeitsfeststellung, VRR 2006, 328
Rogall, Der Augenscheinsgehilfe im Strafprozess, in: Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, S. 391.
Rdn 2390
1. Der Augenscheinsbeweis ist entgegen seiner unmittelbaren Wortbedeutung nicht nur die optische Wahrnehmung von Tatsachen (z.B. Reifenspuren), sondern auch die Wahrnehmung von Personen oder Sachen schlechthin durch jeden Sinn, also auch durch Hören, Riechen, Schmecken und Befühlen. Keine Augenscheinseinnahme liegt vor, wenn im Rahmen der Vernehmung des Angeklagten zur Sache oder während der Zeugenvernehmung Gegenstände als Vernehmungshilfen zur Erläuterung von Fragen oder zur Veranschaulichung benutzt werden (Meyer-Goßner/Schmitt, § 86 Rn 8; s.a. Burhoff, HV, Rn 439 ff.). Die Augenscheinseinnahme kann jedoch nicht durch eine (nur) informatorische Besichtigung ersetzt werden (vgl. BGH NJW 1952, 1306).
Rdn 2391
2.a) Findet die gerichtliche Augenscheinseinnahme in der HV selbst statt, ist sie auch dann Teil der HV, wenn sie nicht im Gerichtssaal, sondern an einem anderen Ort stattfindet. In diesem Fall muss sie als "wesentliche Förmlichkeit" (§ 273 Abs. 1 StPO i.V.m. § 71) im Sitzungsprotokoll festgehalten werden. Dabei genügt es festzustellen, dass die Augenscheinseinnahme stattgefunden hat. Hierauf erstreckt sich dann auch die besondere Beweiskraft des Sitzungsprotokolls (BGHSt 3, 187).
☆ Enthält die Sitzungsniederschrift keinen Eintrag über die Inaugenscheinnahme von Lichtbildern , so sind diese nicht als in Augenschein genommen anzusehen. Werden die Lichtbilder dann zur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung gemacht, kann diese fehlerhaft sein. § 261 StPO, wonach die richterliche Überzeugungsbildung nur aus dem Inbegriff der HV gewonnen werden kann, gilt auch im Bußgeldverfahren.Sitzungsniederschrift keinen Eintrag über die Inaugenscheinnahme von Lichtbildern, so sind diese nicht als in Augenschein genommen anzusehen. Werden die Lichtbilder dann zur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung gemacht, kann diese fehlerhaft sein. § 261 StPO, wonach die richterliche Überzeugungsbildung nur aus dem Inbegriff der HV gewonnen werden kann, gilt auch im Bußgeldverfahren.
Allerdings kann ein Lichtbild während der Beweisaufnahme benutzt werden, indem es im Rahmen eines Vorhalts von den Verfahrensbeteiligten betrachtet und erörtert wird (vgl. Rdn 2390). In diesen Fällen bedarf es nicht der Protokollierung der Verwertung des Lichtbildes (BGH NJW 1962, 2361; NStZ-RR 1999, 107; OLG Koblenz NStZ-RR 2011, 352 = NZV 2011, 621 = VRR 2011, 363; zum Inhalt Burhoff, HV, Rn 3994 ff.). Rügt der Verteidiger die Nichtinaugenscheinnahme im Rechtsbeschwerdeverfahren, so muss er gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO auch vortragen, dass die Lichtbilder auch nicht in anderer Weise (insbesondere im Rahmen des o.g. Vorhalts) zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden sind. Daran, dass dies nicht selten unterbliebt, scheitern viele Rechtsbeschwerden.
Rdn 2392
Findet eine Augenscheinseinnahme in Form einer Ortsbesichtigung statt, so müssen die Beteiligten diese nacheinander vornehmen, wenn die gleichzeitige Besichtigung wegen der speziellen räumlichen Verhältnisse ausgeschlossen ist (etwa bei Fahrproben in einem Kfz, das nicht genügend Platz bietet). Darüber hinaus muss das Ergebnis der Beweisaufnahme anschließend mit allen Prozessbeteiligten gemeinsam erörtert werden (OLG Celle MDR 1971, 507).
Rdn 2393
b) Der richterliche Augenschein kann auch außerhalb der HV eingenommen werden. Das gemäß § 86 StPO aufzunehmende Protokoll ermöglicht die Verlesung des Protokolls in der HV (§ 249 Abs. 1 S. 2 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1). Für den Betroffenen und den Verteidiger besteht nach § 168d Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 ein Anwesenheitsrecht.
☆ Unterbleibt die Benachrichtigung des Verteidigers und des Betroffenen vom Termin zur Augenscheinseinnahme , besteht für das zu verlesende Protokoll ein Beweisverwertungsverbot (vgl. BGHSt 26, 332; 31, 140; einschränkend BGHSt 34, 231). Der Verteidiger muss nach der beabsichtigten Verlesung rechtzeitig (bis zum Zeitpunkt des § 257 StPO) widersprechen, wenn er sich die entsprechende Rechtsbeschwerderüge erhalten will (zur Widerspruchslösung Burhoff , HV, Rn 4014 ff. und → Beweisverwertungsverbote, Allgemeines , Rdn 582 ff.). Das gilt obwohl der 2. Straf...