Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Die Frage, ob andere wichtige Gründe i.S. des § 121 Abs. 1 vorliegen, beantwortet sich danach, ob die Umstände, die die Fortdauer der U-Haft über sechs Monate hinaus rechtfertigen sollen, von ihrem Gewicht her mit der "besonderen Schwierigkeit" oder dem "besonderen Umfang der Ermittlungen" vergleichbar sind. |
2. |
Die Rspr. zur Frage des „wichtigen Grundes ist unüberschaubar. Der Verteidiger muss prüfen, ob nicht mehrere in ihrer Gesamtheit dazu führen (müssen), dass "ein" anderer wichtige Grund zu bejahen ist |
3. |
In Betracht zu ziehen/zu prüfen sind zunächst allgemeine Umstände. |
4. |
Auch "besondere Umstände" können dazu führen, dass ein "anderer wichtiger Grund" zu verneinen ist, die U-Haft also nicht fortdauern darf. |
5. |
Bei groben prozessualen Fehlern wird das Vorliegen eines anderen wichtigen Grundes i.d.R. zu verneinen sein. |
6. |
Bei Untätigkeit der Ermittlungsbehörden und/oder des Gerichts ist ein anderer wichtiger Grund, der die Fortdauer der U-Haft rechtfertigen würde, zu verneinen. |
7. |
Auch bei der Durchführung der HV kann es zu Fehlern kommen, die die Fortdauer der U-Haft nicht rechtfertigen. |
8. |
In der Praxis spielen die Fragen einer unzureichenden Personalausstattung eine große Rolle. |
9. |
Hat bereits eine HV stattgefunden und ist diese ausgesetzt worden, ist der "andere wichtige Grund" besonders sorgfältig zu prüfen. |
Rdn 2696
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Haftprüfung durch das OLG, Allgemeines, Teil H Rdn 2626, und bei → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil U Rdn 4650.
Rdn 2697
1. Die Frage, ob andere wichtige Gründe i.S. des § 121 Abs. 1 vorliegen, beantwortet sich danach, ob die Umstände, die die Fortdauer der U-Haft über sechs Monate hinaus rechtfertigen sollen, von ihrem Gewicht her mit der "besonderen Schwierigkeit" oder dem "besonderen Umfang der Ermittlungen" vergleichbar sind. Diese sind Beispielsfälle eines wichtigen Grundes (SSW-StPO/Herrmann, § 121 Rn 65; Schlothauer/Nobis u.a., Rn 922 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 121 Rn 18). Für die Prüfung der Frage kommt es darauf an, dass sämtliche zumutbaren und möglichen Anstrengungen unternommen wurden, um das Verfahren innerhalb von sechs Monaten mit einem erstinstanzlichen Urteil abzuschließen (u.a. BVerfG StV 2014, 39 m. Anm. Burhoff StRR 2014, 447). Ein „wichtiger Grund liegt vor, wenn das Verfahren durch Umstände verzögert worden ist, denen die Ermittlungsbehörden nicht durch geeignete Maßnahmen haben entgegenwirken können (KG StV 2015, 42 m. Anm. Herrmann StRR 2014, 155; Beschl. v. 15.1.2018 – (4) 161 HEs 62/17; OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 30.6.2022 – 2 HEs 224–227/22, StV 2023, 175 [Ls.]).
Rdn 2698
2. Die Rspr. zur Frage des „wichtigen Grundes ist sehr umfangreich und unüberschaubar. Sie ist in den Rdn Teil H Rdn 2696 ff. in Rechtsprechungsgruppen zusammengefasst.
Der Verteidiger muss "seinen Fall" immer darauf prüfen, ob nicht Umstände aus verschiedenen Gruppen in ihrer Gesamtheit dazu führen (müssen), dass "ein" anderer wichtige Grund zu bejahen ist.
Rdn 2699
3. In Betracht zu ziehen/zu prüfen sind zunächst allgemeine Umstände. Insoweit gilt:
Rdn 2700
a) Anderer wichtiger Grund bejaht bei folgenden allgemeinen Umständen,
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ggf. bei – auch länger andauernder – Erkrankung des Vorsitzenden oder des Berichterstatters (LR-Lind, § 121 Rn 29; Schlothauer/Nobis u.a., Rn 924 m.w.N.; BVerfG NJW 1974, 307; KG, Beschl. v. 24.2.2009 – 1 Ws 25–27/09 [i.d.R., auch wenn sich die Prognose, keinen Ergänzungsrichter zu benötigen, als unzutreffend erwiesen hat, sie aber vertretbar war]; Beschl. v. 24.9.2013 – (4) 141 HEs 62/13; s. aber BVerfG NJW 1994, 2081, wonach die zeitweise, auch nur kurzfristige Abwesenheit des Vorsitzenden kein wichtiger Grund ist, da für diesen Fall durch die Vertretungsregelung Vorsorge getroffen worden ist, und BVerfG NJW 1999, 2802), |
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ggf. die Erkrankung von Zeugen, SV oder des Beschuldigten (OLG Hamm, Beschl. v. 17.4.2008 – 4 Ws 77/08, für hoch ansteckende Erkrankung des Beschuldigten; Schlothauer/Nobis u.a., Rn 929 a.E.), |
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wenn der Beschuldigte häufig den Verteidiger wechselt und das Gericht vor der Entscheidung einer auch für den Beschuldigten wichtigen Frage (SV-Gutachten zu den Fragen der §§ 20, 21 StGB) dem jeweiligen Verteidiger AE und rechtliches Gehör gewährt (OLG Hamm StV 1996, 497), |
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wenn das Gericht eine angekündigte Einlassung des Angeklagten abwartet bzw. abgewartet hat, solange sich dies im "strafprozessualen Rahmen" hält (OLG Nürnberg StV 2012, 422 [Ls.] m. zutreffend krit. Anm. Lind StRR 2012, 113), |
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wenn das Gericht, weil es zutreffend davon ausgeht, dadurch eine Verfahrensförderung herbeiführen zu können, im Eröffnungsverfahren nach § 202a S. 1 Hs. 1 eine Erörterung mit den Verfahrensbeteiligten durchführt, wobei allerdings das Gericht dafür Sorge tragen muss, dass alle anstehenden Fragen beantwortet und greifbare Ergebnisse erzielt werden (OLG Nürnberg StV 2011, 750); Hunsmann verweist in seiner abl. Anm. StRR 2011, 278 darauf, dass nach der Rspr. des BVerfG in StRR 2011, 320 de... |