Leitsatz

Die nicht rechtskräftige Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe rechtfertigt nicht ohne weiteres die Inhaftierung des Angeklagten.

 

Sachverhalt

B wurde wegen Hinterziehung von mehr als 1,6 Mio. DM Steuern angeklagt. Einen nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl hatte das Gericht schon bei Verfahrensbeginn im Jahr 2002 gegen Kautions- und Meldeauflagen außer Vollzug gesetzt. Im Oktober 2006 verurteilte das LG den B zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Ihm waren letztlich gescheiterte Versuche vorausgegangen, das Verfahren im Wege einer einverständlichen Beendigung abzuschließen. B konnte die von der Staatsanwaltschaft als Gegenleistung für eine Bewährungsstrafe geforderte Steuerzahlung nicht erbringen. Das LG erließ mit der Urteilsverkündung einen neuen, ebenfalls mit Fluchtgefahr begründeten Haftbefehl, der sofort vollstreckt wurde. Rechtsmittel hiergegen waren erfolglos. Die anschließende Verfassungsbeschwerde führte zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.

 

Entscheidung

Die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls darf nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nur dann widerrufen werden, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage seit der Gewährung der Haftverschonung geändert haben. Ein nach der Haftverschonung ergangenes Urteil kann zwar im Einzelfall auch bei fehlender Rechtskraft geeignet sein, den Widerruf der Haftverschonung zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass die vom Gericht verhängte oder von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe von der Prognose des Haftrichters erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. War dagegen zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit der später ausgesprochenen, auch höheren Strafe zu rechnen und hat der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, darf die Haftverschonung nicht durch Erlass eines neuen Haftbefehls widerrufen werden. Insoweit kann der Angeklagte auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses auf das in ihn bislang gesetzte Vertrauen und die von ihm erfüllten Auflagen verweisen.

 

Praxishinweis

Das LG hatte die geschilderten strafprozessualen Voraussetzungen für die Wieder-Invollzugsetzung nicht geprüft, sondern kurzerhand einen neuen Haftbefehl erlassen. Dies ist laut BVerfG unzulässig. Der Begünstigte einer Haftverschonungsentscheidung hat grundsätzlich Anspruch darauf, die Rechtskraft des gegen ihn verhängten Urteils in Freiheit zu erwarten. Das OLG hatte in seinem Verwerfungsbeschluss nur auf die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe abgestellt, ohne darzulegen, warum sich der Strafausspruch erheblich von der bisherigen Straferwartung unterscheidet und weshalb sich die Fluchtgefahr dadurch wesentlich erhöht hat. Vor allem hatte das OLG nicht berücksichtigt, dass B mehrere Jahre lang den ihm erteilten Auflagen strikt gefolgt ist. Diese Überlegungen muss der zuständige Strafsenat bei seiner neuen Entscheidung vollumfänglich berücksichtigen und B gegebenenfalls sofort auf freien Fuß setzen.

 

Link zur Entscheidung

BVerfG-Beschluss vom 29.11.2006, 2 BvR 2342/06

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