Entscheidungsstichwort (Thema)
Fragen zur Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 inne haben. Abschiebung. Arbeitsmarkt. Arbeitsplatz. aufenthaltsrechtliche Position. Ausländerrechts
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erwerben auch die in Deutschland geborenen Kinder
2. Türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht aufgrund Assoziationsrechts inne haben, können sich nicht auf entsprechende Anwendung der für Unionsbürger bestehenden verfahrensrechtlichen Position nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU berufen.
Normenkette
ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1, Art. 7 S. 1; FREIZÜGG/EU § 7; RICHTLINIE 2004/38/EG Art. 31
Verfahrensgang
VG Gießen (Beschluss vom 11.11.2004; Aktenzeichen 7 G 4559/04) |
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 11. November 2004 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,– EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig (§§ 146 Abs. 1, Abs. 4, 147 VwGO), im Ergebnis aber nicht begründet.
Aufgrund der gegen den verwaltungsgerichtlichen Beschluss vorgebrachten Beschwerdegründe kann nicht festgestellt werden, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den ausländerbehördlichen Bescheid zu Unrecht abgelehnt hat. Die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung erscheinen im Ergebnis offensichtlich rechtmäßig.
Zu Recht meint der Antragsteller allerdings, dass er entgegen der Auffassung der Ausländerbehörde eine aufenthaltsrechtliche Position nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 inne hat und diese Position insbesondere nicht durch die Verbüßung von etwa einem Jahr Jugendhaft erloschen ist. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 11. November 2004 (Rechtssache C-467/02; Juris) sind mehrere auch für den Fall des Antragstellers einschlägige Fragen geklärt: Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erfasst auch die Situation einer volljährigen Person, die Kind eines türkischen Arbeitnehmers ist, welcher dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates angehört oder angehört hat, auch wenn der Betreffende – wie hier der Antragsteller – im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und stets dort gewohnt hat und nicht etwa – wie es dem bloßen Wortlaut von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 entsprechen würde – als Familienangehöriger erst die Genehmigung erhalten hat, zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen. Weiter lässt es Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht zu, dass der aufenthaltsrechtliche Status einer begünstigten Person durch längere Abwesenheit vom Arbeitsmarkt etwa wegen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe – wie hier im Fall des Antragstellers – beeinträchtigt wird. Hiernach führt weder der Umstand, dass der Vater des Antragstellers sich zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung bereits in Rente befunden und damit nicht mehr dem Arbeitsmarkt angehört hat, noch der Umstand, dass der Antragsteller etwa ein Jahr Jugendhaft verbüßt hat, zum Erlöschen seiner aufenthaltsrechtlichen Position nach Art. 7 ARB 1/80. Vielmehr steht dem Antragsteller, der in Deutschland als Kind eines türkischen Arbeitnehmers geboren ist, diese Position weiterhin zu. Nach dieser Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs dürfte die aus der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs (EuGH, 06.06.1995, C-434/93 –, NVwZ 1995, 1093 = InfAuslR 1995, 261 – „Bozkurt”) abgeleitete Auffassung, dass dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Arbeitnehmer ihren Familienangehörigen – im Unterschied zur Regelung in Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 – kein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 vermitteln können (siehe dazu Gutmann in GK-AuslR, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 37) nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Es kann allerdings darauf hingewiesen werden, dass auch nach dieser seitherigen Auffassung die Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 weiter wirkt bzw. wieder auflebt, wenn der Familienangehörige des früheren Arbeitnehmers selbst einen Arbeitsplatz gefunden hat (Gutmann, a.a.O. Rn. 38) und es nicht erforderlich ist, dass der Familienangehörige erst selbst durch einjährige ordnungsgemäße ununterbrochene Beschäftigung bei einem Arbeitgeber eine eigene Position aus Art. 6 ARB 1/80 erwirbt. Diese Auffassung ergab sich aus der zutreffenden Erkenntnis, dass ansonsten eine nicht einsehbare Lücke in der aufenthaltsrechtlichen Position im ersten Jahr einer Beschäftigung auftreten würde, obwohl die Integration des Familienangehörigen durchgehend besteht. Auch auf der Grundlage dieser Auffassung stünde dem Antragsteller die aufenthaltsrechtliche Position nach Art. 7 ARB 1/80 zu, weil er ausweislich seiner Glaubhaftmachung im Beschwerdeverfahren seit dem 22. November 2004 einen Arbeitsplatz als Gebäudereiniger inne hat. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der aufenthaltsrechtlichen Position des Antragstellers ist der aktuelle Zeitpunkt. Dies ergibt sich bereit...