Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Form einer Allgemeinverbindlicherklärung. Rechtsfolgen der Nichtigkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung iSv § 5 TVG erfordert aus Gründen des Demokratieprinzips einer aktenkundigen Befassung des zusändigen MInisters bzw. eines Staatssekretärs mit dem Vorgang.

2. Im Falle der Nichtigkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung aufgrund mangelnder aktenkundiger Ministerbefassung ist ein rückwirkender Neuerlass unter Anknüpfung an das durch die nichtige Allgemeinverbindlicherklärung nicht abgeschlossene Verfahren grundsätzlich zulässig, auch wenn der zeitliche Geltungsbereich des betroffenen Tarifvertrags ausschließlich in der Vergangenheit liegt..

 

Normenkette

ArbGG § 98; TVG § 5

 

Nachgehend

BAG (Beschluss vom 23.02.2022; Aktenzeichen 10 ABR 33/20)

 

Tenor

Der auf die Feststellung, dass die Allgemeinverbindlichkeitserklärung vom 29. Oktober 2019 (BAnz. Nr. 40 vom 28. November 2019) des Entgelttarifvertrages vom 16. Juli 2009 für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Hessen unwirksam ist, gerichtete Antrag wird zurückgewiesen.

Es wird festgestellt, dass die Allgemeinverbindlichkeitserklärung vom 20. Mai 2009 (BAnz. Nr. 82 vom 8. Juni 2010) des Entgelttarifvertrages vom 16. Juli 2009 für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Hessen unwirksam ist.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit zweier Allgemeinverbindlicherklärungen eines Tarifvertrages.

Die Beteiligten zu 3 und 4 schlossen am 16. Juli 2009 einen Entgelttarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Hessen (im Folgenden: der ETV 2009) mit Wirkung zum 1. Juli 2009, nachdem ein von ihnen vereinbarter und teilweise für allgemeinverbindlich erklärte Vorgänger-Entgelttarifvertrag abgelaufen war. Der Geltungsbereich des ETV 2009 erfasst räumlich das Land Hessen, fachlich alle Betriebe des Wach- und Sicherheitsgewerbes sowie alle Betriebe, die Kontroll- und Ordnungsdienste betreiben, für alle Bewachungsobjekte und Dienststellen, sowie persönlich alle Arbeitnehmer, die im räumlichen Geltungsbereich des Entgelttarifvertrages eingesetzt werden.

Mit Schreiben vom 14. Januar 2010 beantragte die Beteiligte zu 3 beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (im Folgenden: das BMAS) eine zum 1. Juli 2009 rückwirkende Allgemeinverbindlicherklärung des ETV 2009 (mit Ausnahme seiner §§ 5, 6.2) und legte zugleich eine Einverständniserklärung der Beteiligten zu 4 vor. In dem Schreiben führte die Beteiligte zu 3 zum einen an, dass nach den Angaben der Bundesagentur für Arbeit die Beschäftigtenzahl zum Stichtag 31. Dezember 2008 (letzte herausgegebene Statistik) 17.937 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte betrage, zum anderen dass in ihren Mitgliedsunternehmen zum Stichtag 31. Dezember 2009 10.345 Beschäftigte gemeldet seien. Dem Schreiben lag eine tabellarische Übersicht über die Anzahl der in den einzelnen Bundesländern im Wach- und Sicherheitsgewerbe Beschäftigten bei, aus der sich eine Gesamtbeschäftigtenzahl für Hessen in Höhe von 22.232 ergab und für die als Quelle die Bundesagentur für Arbeit genannt wurde.

Mit Erlass vom 5. Februar 2010 übertrug das BMAS der Beteiligten zu 2 die Durchführung des Verfahrens über den Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung. Daraufhin machte die Beteiligte zu 2 am 15. März 2010 diesen Antrag bekannt und beraumte einen Termin zur öffentlichen und mündlichen Verhandlung vor dem Tarifausschuss des Landes Hessen auf den 27. April 2010, 14.00 Uhr, an. Die Bekanntmachung wurde im Bundesanzeiger Nr. 49 vom 30. März 2010 auf Seite 1156 veröffentlicht.

Nachdem die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände der Beteiligten zu 2 mit Schreiben vom 9. April 2010 mitgeteilt hatte, dass sie von Beschäftigtenzahlen im privaten Wach- und Sicherheitsgewerbe in Hessen in Höhe von 23.896 (Stichtag: 31. Dezember 2008) bzw. 23.610 (Stichtag: 30. September 2009) ausgehe, teilte das Statistische Bundesamt der Beteiligten zu 2 auf deren Nachfrage am 12. April 2010 mit, dass am Stichtag 30. Juni 2009 insgesamt 22.121 Personen im privaten Wach- und Sicherheitsgewerbe in Hessen tätig waren. Mit Schreiben vom 26. April 2010 unterrichtete die Beteiligte zu 3 die Beteiligten zu 2 darüber, dass zum Stichtag 31. Dezember 2009 in ihren Mitgliedsunternehmen insgesamt 12.818 Personen beschäftigt würden, und legte eine tabellarische Übersicht zur Erläuterung vor.

Der Tarifausschuss tagte am 27. April 2010 und fasste den Beschluss, den ETV 2009 in Teilen (für die unteren Lohngruppen bis zu einem Stundenlohn von 8,27 EUR brutto) für allgemeinverbindlich zu erklären. Wegen der Einzelheiten des Inhalts der Tarifausschusssitzung wird auf Bl. 51 ff. der beigezogenen Vorgangsakte des Beteiligten zu 2, Az. XXXXX1, verwiesen. Am 20. Mai 2010 machte die Beteiligte zu 2 die eingeschränkte Allgemeinverbindlicherklärung des ETV 2009 mit Wirkung vom 1. Juli 2009 (im Folgenden: die AVE 2010) bekannt. Diese wurde im B...

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