Entscheidungsstichwort (Thema)
Anfechtung der Wahl zur Schwerbehindertenvertretung. Arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnisse von behinderten Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten
Leitsatz (amtlich)
1. Anders als § 5 BetrVG knüpft § 177 Absatz 2 SGB IX nicht an den Arbeitnehmerbegriff, sondern an den Begriff des "Beschäftigten" an. Eine Beschäftigung setzt ein Arbeitsverhältnis nicht zwingend voraus.
2. Behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten, die gemäß § 221 Absatz 1 SGB IX, wenn sie nicht Arbeitnehmer sind, zu diesem in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis stehen, sind damit - auch wenn sie einen Werkstattrat wählen - gleichwohl im Betrieb beschäftigte schwerbehinderte Menschen im Sinne von § 177 Absatz 2 SGB IX.
3. Der Umstand, dass behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten durch Werkstatträte mitbestimmen, macht eine Interessenwahrnehmung durch die Schwerbehindertenvertretung nicht entbehrlich.
Leitsatz (redaktionell)
Soweit zur Wahl der Schwerbehindertenvertretung nach § 177 Abs. 2 SGB IX alle in dem Betrieb oder der Dienststelle beschäftigten schwerbehinderten Menschen wahlberechtigt sind, ist der Kreis der Wahlberechtigten durch Anknüpfung an den Begriff des "Beschäftigten" und damit an die "Beschäftigung" weit gefasst. Hierunter fallen nicht nur Arbeitnehmer, die Arbeit in persönlicher Abhängigkeit erbringen, sondern es liegt auch eine Beschäftigung von Nichtarbeitnehmern vor, soweit und solange diese aufgrund einer freiwillig eingegangenen rechtlichen Verpflichtung weisungsgebundene Arbeit verrichten. Dies trifft auf behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten zu, die gemäß § 221 Abs. 1 SGB IX, wenn sie nicht Arbeitnehmer sind, zu diesen in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis stehen. Auch wenn sie deshalb zu ihrer Mitwirkung gemäß § 52 SGB IX besondere Vertreter wählen - den Werkstattrat gemäß § 222 SGB IX -, sind sie gleichwohl im Betrieb beschäftigte schwerbehinderte Menschen im Sinne von § 177 Abs. 2 SGB IX.
Normenkette
SGB IX § 177 Abs. 2, 6; BetrVG § 5; SGB IX § 221 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 01.03.2023; Aktenzeichen 14 BV 1059/22) |
Tenor
Die Beschwerde des Beteiligten zu 6 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 1. März 2023 - 14 BV 1059/22 - wird zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Anfechtung der Wahl zur Schwerbehindertenvertretung.
Die Antragsteller zu 1 und 2 sowie der Beteiligte zu 5 sind bei dem Beteiligten zu 6 (Arbeitgeber) beschäftigt. Der Antragsteller zu 3 war bis 31. Dezember 2022 beim Arbeitgeber beschäftigt. Die Antragsteller zu 1-3 sind schwerbehindert. Beteiligter zu 4 ist die im Betrieb des Arbeitgebers gewählte Schwerbehindertenvertretung.
Der Arbeitgeber bietet in verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialarbeit Hilfen (ambulante Dienste, teilstationäre Einrichtungen und Wohnstätten) an und beschäftigt etwa 850 Arbeitnehmer. Darüber hinaus bietet er Beschäftigung zur Rehabilitation und beruflichen Teilhabe. Diese Rehabilitanden (insgesamt 200-300 im Betrieb des Arbeitgebers) werden in Werkstätten eingesetzt.
Die Beteiligten sind unterschiedlicher Auffassung darüber, ob die Rehabilitanden wahlberechtigt zur Schwerbehindertenvertretung sind.
Der Wahlvorstand leitete mit Wahlausschreiben vom 6. Oktober 2022 (Bl. 8, 9 der Akte) die Wahl der Schwerbehindertenvertretung am 18. November 2022 ein. Die schwerbehinderten Rehabilitanden setzte er nicht auf die Wählerliste. Deshalb legten die Antragsteller zu 1-3 Widerspruch gegen die Wählerliste ein (Bl. 10-12 der Akte). Unter dem 12. Oktober 2022 wies der Wahlvorstand die Einsprüche zurück (Bl. 16-18 der Akte).
Bei der Wahl der Schwerbehindertenvertretung wurden als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen der Antragsteller zu 2 mit 42 Stimmen, zum ersten Stellvertreter mit 26 Stimmen der Beteiligte zu 5, zur zweiten Stellvertreterin mit 22 Stimmen die Antragstellerin zu 3 und zum dritten Stellvertreter mit 9 Stimmen der Antragsteller zu 1 gewählt. Das Wahlergebnis wurde am 22. November 2022 bekannt gemacht (Bl. 7 Mitte der Akte).
Mit einem am 1. Dezember 2022 beim Arbeitsgericht eingegangenen Anwaltsschriftsatz haben die Antragsteller zu 1-3 die Wahl der Schwerbehindertenvertretung angefochten.
Sie haben die Auffassung vertreten, die Wahl sei unwirksam, weil die Rehabilitanden nicht auf die Wählerliste gesetzt wurden. Sie seien gemäß § 177 Abs. 2 SGB IX als "Beschäftigte" wahlberechtigt zur Wahl der Schwerbehindertenvertretung. Hätten die 200-300 Rehabilitanden mitgewählt, wäre ein anderes Wahlergebnis zumindest möglich gewesen.
Demgegenüber hat der Arbeitgeber gemeint, die Rehabilitanden seien nicht wahlberechtigt für die Schwerbehindertenvertretung, da sie bereits durch einen Werkstattrat gemäß § 222 SGB IX vertreten seien. Hierbei handele es sich um die speziellere Vertretung gegenüber der Schwerbehindertenvertretung.
Wegen der Einzelhei...