Entscheidungsstichwort (Thema)
Bestimmung des Streitgegenstandes bei Geltendmachung von Beiträgen zum Sozialkassenverfahren des Baugewerbes
Leitsatz (amtlich)
1. Die Kammer geht davon aus, dass es sich um einen neuer Streitgegenstand handelt, wenn sich der Kläger anstelle der (unwirksamen) Allgemeinverbindlicherklärung auf das SokaSiG beruft.
2. Aufgrund der Besonderheiten des SokaSiG ist es ausreichend, wenn sich der Kläger in der Berufungsinstanz zumindest auch auf das SokaSiG beruft. Er muss den neuen Gegenstand nicht nur als Hilfsantrag verfolgen und das Gericht ist befugt, sich bei einer Stattgabe des Beitragsanspruchs in erster Linie auf die neue gesetzliche Grundlage zu stützen.
Normenkette
SokaSiG § 7; ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2; TVG § 4 Abs. 5, § 5 Abs. 4; VTV-Bau §§ 18, 21; ZPO §§ 263, 533
Verfahrensgang
ArbG Wiesbaden (Entscheidung vom 15.02.2017; Aktenzeichen 11 Ca 356/16) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird unter Aufhebung des Versäumnisurteils vom 1. Februar 2017 das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 15. Februar 2017 - 11 Ca 356/16 - abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 73.923,00 EUR (in Worten: Dreiundsiebzigtausendneunhundertdreiundzwanzig und 0/100 Euro) zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen mit Ausnahme der Kosten der Säumnis im Termin am 1. Februar 2017, die der Kläger zu tragen hat.
Die Revision wird für beide Seiten zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über eine Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung von Beiträgen zum Sozialkassenverfahren des Baugewerbes.
Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien im Baugewerbe. Auf der Grundlage des Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV), der in der Vergangenheit regelmäßig für allgemeinverbindlich erklärt worden ist, hat er von dem Beklagten Zahlung von Beiträgen in Höhe von 73.923 Euro begehrt. Dabei handelt es sich um Beiträge für gewerbliche Arbeitnehmer in dem Zeitraum März 2011 bis Dezember 2015. Der Kläger hat seiner Mindestbeitragsklage zugrunde gelegt, dass monatlich zwei Arbeitnehmer beschäftigt waren.
Der Beklagte ist in keinem Bauarbeitgeberverband Mitglied. Im Gewerberegister ist der Betrieb mit den Tätigkeiten "Tischlerei, Zimmerei" angemeldet. Bei der Handwerkskammer A wird der Betrieb mit den Tätigkeiten "Zimmerer" und "Tischler" geführt. Auf der Homepage, die sich noch im Aufbau befindet, stellt sich der Beklagte als Tischler- und Holzbaubetrieb dar (vgl. Bl. 25 der Akte). Seit dem 1. Januar 2016 ist er Mitglied der Tischlereiinnung B.
In dem Betrieb wurden im streitgegenständlichen Zeitraum im Wesentlichen Fenster, Türen, Böden, Fußleisten etc. montiert. Der Beklagte unterhält eine Werkstatt, in der Fußleisten zugeschnitten und die Montage von Türen, Fenstern und Fensterbänken vorbereitet worden sind. Über die genauen Einzelheiten der im Betrieb erbrachten Tätigkeiten herrscht zwischen den Parteien Streit.
Das Bundesarbeitsgericht hat mit zwei Beschlüssen vom 21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - sowie - 10 ABR 48/15 - entschieden, dass die Allgemeinverbindlicherklärung (kurz AVE) 2008 und 2010 sowie die AVE 2014 des VTV unwirksam sind. Mit Beschlüssen vom 25. Januar 2017 - 10 ABR 43/15 - sowie 10 ABR 34/15 - hat das Bundesarbeitsgericht ferner entschieden, dass die AVE 2012 und 2013 unwirksam sind. Daraufhin ist ein Gesetzgebungsverfahren zur Stützung des Sozialkassenverfahrens im Baugewerbe initiiert worden. Der Deutsche Bundestag hat am 26. Januar 2017 das Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (SokaSiG) verabschiedet. Das Gesetz ist am 25. Mai 2017 in Kraft getreten. Es sieht vor, dass der VTV in seiner jeweiligen Fassung rückwirkend bis zum Jahr 2006 ohne Rücksicht auf eine AVE "gelten" soll.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass die Beklagte zur Beitragszahlung verpflichtet sei. Er hat behauptet, die im Betrieb des Beklagten beschäftigten Arbeitnehmer hätten in dem Zeitraum 2011 bis 2015 jeweils zu mehr als 50 % ihrer persönlichen Arbeitszeit die folgenden Tätigkeiten erbracht:
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Trocken- und Montagebauarbeiten, z.B. die Montage vorgefertigter Baufertigteile, wie Fenster, Türen, Boden- und Deckenkonstruktionen, Wandverkleidungen, Leichtbautrennwänden etc.,
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Innenausbauarbeiten, Dämm- und Isolierarbeiten, z.B. Wärme-, Kälte- und Schallschutz;
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sowie alle damit im Zusammenhang stehenden Vor-, Neben- und Hilfstätigkeiten, wie z.B. Handel und Verkauf, Angebotserstellung, Aufmaß, Lagerarbeiten, Baustellenräumung sowie Reparatur- und Wartungsarbeiten.
Dabei stützt er sich im Wesentlichen auf die Angaben im Gewerberegister. Er gehe davon aus, dass der Beklagte durchschnittlich mindestens zwei Arbeitnehmer beschäftigt habe.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass sie nicht verpflichtet sei, am Sozialkassenverfahren teilzunehmen. Das Bundesarbeitsgericht habe entschieden, dass die AVE in dem streitgegenständlichen Zeitraum jeweils unwirksam sei. Ein Rechtsgrund für eine Inanspruchnahme des Beklagten se...