Entscheidungsstichwort (Thema)
"Wichtiger Grund" i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Umfassende Interessenabwägung bei einer fristlosen Kündigung. Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Verletzung vertraglicher Rücksichtnahmepflichten
Leitsatz (amtlich)
1. Die Gleichsetzung betrieblicher Vorgänge mit dem nationalsozialistischen Terrorsystem kann eine grobe Beleidigung der damit angesprochenen Personen darstellen.
2. Bei der Konkretisierung der Verletzung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) sind die grundrechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere das Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) zu beachten.
3. Es hat eine Abwägung der Umstände des Einzelfalls zwischen den Belangen der Meinungsfreiheit und den Rechtsgütern, in deren Interesse das Grundrecht der Meinungsfreiheit eingeschränkt werden soll, stattzufinden. Dabei wird das Grundrecht der Meinungsfreiheit zurücktreten müssen, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde oder als eine Formalbeleidigung oder eine Schmähung darstellt. Voraussetzung jeder Abwägung ist, dass der Sinn der Meinungsäußerung zutreffend erfasst worden ist.
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falls jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht. Die Gleichsetzung betrieblicher Vorgänge mit dem nationalsozialistischen Terrorsystem kann einen wichtigen Grund darstellen.
2. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen.
3. Auch wenn eine erhebliche Verletzung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) vorliegt, sind die grundrechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, zu beachten. Auch eine polemische oder verletzende Formulierung entzieht einer Äußerung noch nicht den Schutz der Meinungsfreiheit.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 12; BGB § 241 Abs. 2; KSchG § 1 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Darmstadt (Entscheidung vom 03.03.2022; Aktenzeichen 7 Ca 114/21) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 3. März 2022 – 7 Ca 114/21 – teilweise abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 7. Mai 2021 weder außerordentlich noch ordentlich aufgelöst wurde.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Production Worker in der Abteilung xxx weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Zug um Zug gegen Rückgabe des Zeugnisses vom 7. Mai 2021 ein qualifiziertes Zwischenzeugnis zu erteilen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über eine fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung, Weiterbeschäftigung und die Erteilung eines Zwischenzeugnisses.
Die Beklagte stellt Lebensmittelprodukte her und beschäftigt etwa 1800 Arbeitnehmer. Bei ihr ist ein Betriebsrat gebildet. Der am xx.xx. 1983 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit 30. April 2020 auf der Grundlage des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 24. April 2020 (Bl. 6-9 der Akte) in der Fassung der Änderungsvereinbarung vom 7. August 2020 (Bl. 10 der Akte) als „Production Worker“ bei der Beklagten zu einer Bruttomonatsvergütung von 3334,80 € tätig.
Am 23. April 2021 kam es während der Spätschicht in der Betriebskantine zu einem Vorfall, dessen genauer Verlauf und Wortlaut streitig ist.
Nach der Behauptung des Klägers wurde an diesem Tag eine Sammelbestellung Pizza aufgegeben. Regulärer Pausenbeginn sei um 17:00 Uhr. Der Kläger und sein Kollege A seien um ca. 17:05 Uhr in der Kantine angekommen, wo sich bereits 3 weitere Kollegen aus der Schicht des Klägers befunden hätten. Unmittelbar danach sei der Schichtleiter B mit weiteren Kollegen in der Kantine eingetroffen. Der Schichtleiter B habe den Kläger angeschrien, warum er zeitlich vor dessen Eintreffen bereits in der Kantine stehe. Ein Teil der Mitarbeiter habe die für sie gelieferte Pizza genommen und die Kantine verlassen. Der andere Teil habe seine Pizza in der Kantine gegessen. Als die Uhr 17:15 Uhr angezeigt habe, seien der Kläger und sein Kollege noch am Essen gewesen. Der Schichtleiter B habe daraufhin in provozierendem Ton zum Kläger gesagt: „Eure Pause ist gleich zu Ende.“ Der Kläger habe nicht mehr gewusst, wie er mit der durchgehenden Drucksituation ang...