Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung. Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit. Kündigung [Tat- und Verdachtskündigung]

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Das Vortäuschen der Arbeitsunfähigkeit ist geeignet, eine außerordentliche Kündigung an sich zu rechtfertigen, da der Arbeitnehmer durch Vortäuschen der Arbeitsunfähigkeit regelmäßig einen Betrug zu Lasten des Arbeitgebers begehen wird; denn durch Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung veranlasst er den Arbeitgeber unter Vortäuschung falscher Tatsachen dazu, ihm unberechtigterweise Entgeltfortzahlung zu gewähren.

2. Legt der Arbeitnehmer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, kann eine Tatkündigung nur dann erfolgreich ausgesprochen werden, wenn der Arbeitgeber deren Beweiswert erschüttern kann.

3. a) Auch die auf den Verdacht des Vortäuschens von Arbeitsunfähigkeit gestützte Kündigung kommt jedoch ur in Betracht, wenn gewichtige, auf objektive Tatsachen gestützte dringende Verdachtsmomente vorliegen und diese geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Ein dringender Verdacht liegt nur vor, wenn bei kritischer Prüfung eine auf Beweistatsachen (Indizien) gestützte große Wahrscheinlichkeit für eine erhebliche Pflichtverletzung des Arbeitnehmers besteht.

b) Der entsprechende Verdacht muss es dem Arbeitgeber unzumutbar machen, mit dem Arbeitnehmer weiter zusammenzuarbeiten.

 

Normenkette

BGB §§ 626, 626 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Wiesbaden (Entscheidung vom 04.05.2011; Aktenzeichen 3 Ca 2315/10)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 04. Mai 2011 - 3 Ca 2315/10 - abgeändert:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die mit Schreiben der Beklagten vom 21.12.2010 erklärte außerordentliche Kündigung aufgelöst worden ist.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Bedingungen als Wagenpfleger an der Waschanlage zu beschäftigen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Tat-, hilfsweise Verdachtskündigung und um die Weiterbeschäftigung des Klägers.

Der Kläger, der am A geboren, geschieden und vier Kindern zum Unterhalt verpflichtet ist und der einen Grad der Behinderung von 50 aufweist, ist bei der beklagten Stadt seit dem 09. August 1993 beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis richtet sich gemäß § 3 des Arbeitsvertrags vom 10. August 1993 (Bl. 4 f d. A.) nach dem Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltung und Betriebe (BMT- G II) vom 31. Januar 1962, den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen, den für den Bereich des Arbeitgebers geltenden Tarifverträgen in der jeweils geltenden Fassung sowie den zwischen dem Arbeitgeber und der Personalvertretung geschlossenen und noch abzuschließenden Dienstvereinbarungen. Der Kläger war im Entsorgungsbetrieb der Beklagten eingesetzt. Sein Entgelt betrug zuletzt ca. 3.000,00 EUR brutto monatlich.

Der Kläger wies erhebliche Arbeitsunfähigkeitszeiten auf. Diese betrugen seit 2001:

2001

246 Arbeitstage

2002

49 Arbeitstage

2003

50 Arbeitstage

2004

28 Arbeitstage

2005

23 Arbeitstage

2006

59 Arbeitstage

2007

198 Arbeitstage

2008

214 Arbeitstage

2009

194 Arbeitstage

2010

43 Arbeitstage (bis 16. Juli 2010)

Diese Arbeitsunfähigkeitszeiten beruhten auf unterschiedlichen Erkrankungen bzw. Unfällen. Beschwerden im Knie, der Schulter und am Halswirbel führten zu dauerhaften gesundheitlichen Einschränkungen, sodass der Kläger zuletzt nur noch eingeschränkt eingesetzt werden konnte. Der Kläger war zunächst als Mülllader eingesetzt. Nachdem er bei einem Unfall im Jahr 2001 eine Verletzung am Knie und Fuß erlitten hatte, die in den Folgejahren zu weiteren Ausfallzeiten führte, ordnete der Betriebsarzt an, dass der Kläger keine Tätigkeiten ausschließlich im Gehen verrichten sollte. Der Kläger wurde sodann als Beifahrer auf dem Sperrmüllwagen eingesetzt. Bei einem Arbeitsunfall im Jahr 2006 erlitt der Kläger eine Rippenfraktur und eine Thoraxprellung. Im Jahre 2007 zog sich der Kläger eine Schulterverletzung zu. Aufgrund der anhaltenden Beschwerden im Knie und der Schulter schloss der Betriebsarzt im Dezember 2007 eine Tätigkeit mit weiten Gehstrecken oder ausschließlich im Gehen und eine mit regelmäßigem schweren Heben und Tragen verbundene Tätigkeit aus. Am 13. Mai 2008 wurde der Kläger in der Tonnenwerkstatt eingesetzt. Nach einer langen Arbeitsunfähigkeitszeit, die u.a. auf Beschwerden und einer Operation an der Schulter, einer Rippenfraktur und einem Bandscheibenvorfall am Halswirbel beruhte, wurde der Einsatz in der Tonnenwerkstatt ab dem 01. August 2009 nach einer betriebsärztlichen Untersuchung fortgesetzt. Die Betrieb...

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