Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen. Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB. Vergütung für Sonderleistungen gem. § 612 Abs. 1 BGB. Objektive Vergütungserwartung bei qualitativer Aufgaben-, Verantwortungs- und Haftungserweiterung. Zusätzliche Leitung einer Klinik als Sonderaufgabe mit objektiver Vergütungserwartung
Leitsatz (amtlich)
1. Es besteht eine objektive Vergütungserwartung nach § 612 Abs. 1 BGB, wenn eine qualitative Aufgabenerweiterung mit einer erheblichen Ausweitung von Aufsichts- und Kontrollpflichten und letztlich einem gesteigerten Haftungsrisiko des Arbeitnehmers einhergeht.
2. Wird einem Chefarzt die zusätzliche Leitung einer Klink übertragen, so besteht eine objektive Erwartung, dass hierfür eine zusätzliche Vergütung geschuldet ist. Dem kann nicht entgegengehalten werden, ab einer bestimmten Vergütungshöhe sei davon auszugehen, dass zusätzliche Arbeiten mit dem Gehalt abgedeckt seien.
Leitsatz (redaktionell)
1. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen sind.
2. Die Anwendung der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB setzt voraus, dass die Auslegung einer einzelnen AGB-Bestimmung mindestens zwei Ergebnisse als vertretbar erscheinen lässt und von diesen keines den klaren Vorzug verdient. Es müssen „erhebliche Zweifel“ an der richtigen Auslegung bestehen.
3. Die Bestimmung des § 612 Abs. 1 BGB ist auch anzuwenden, wenn über die vertraglich geschuldete Tätigkeit hinaus Sonderleistungen erbracht werden, die durch die vereinbarte Vergütung nicht abgegolten sind, und weder einzel- noch tarifvertraglich geregelt ist, wie diese Dienste zu vergüten sind.
Normenkette
BGB §§ 612, 287 Abs. 2, § § 305 ff., §§ 133, 157, 195; TVöD-K § 24; TVöD-Ärzte/VKA § 37 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Gießen (Entscheidung vom 21.04.2017; Aktenzeichen 3 Ca 352/16) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 21. April 2017 – 3 Ca 352/16 – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 149.385,00 EUR (in Worten: Einhundertneunundvierzigtausenddreihundertfünfundachtzig und 0/100 Euro) brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 13. Januar 2017 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 64 % und die Beklagte 36 % zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Entgeltansprüche nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Die Beklagte ist eine gemeinnützige GmbH, die das A Klinikum B C betreibt. Dazu gehören die Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an den Standorten B und C, die Klinik D (Kinder- und Jugendpsychiatrie) in C und die Klinik für Psychosomatische Medizin in B. Rechtsvorgänger ist der E.
Der Kläger war auf der Grundlage des schriftlichen Dienstvertrages vom 21./29. Oktober 2006 mit Wirkung ab 1. August 2006 bei dem Rechtsvorgänger in Personalunion als Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie B - nach Rechtsformänderung zum 1. Januar 2009 A Klinikum für Psychiatrie und Psychotherapie B - sowie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie C-Süd des Zentrums für Soziale Psychiatrie F - nach Rechtsformänderung zum 1. Januar 2009 A-Klinikum für Psychiatrie und Psychotherapie C - eingesetzt. Er war somit als Chefarzt zuständig für insgesamt ca. 383 Betten. Die Parteien stimmen darin überein, dass die Position des Ärztlichen Direktors bei dem E in etwa derjenigen eines Chefarztes nach den Maßstäben der Beklagten entspricht.
Die Parteien schlossen mit Wirkung zum 1. Januar 2009 eine - undatierte - Änderungsvereinbarung, die auszugsweise wie folgt lautet:
„§ 1
Das Grundgehalt nach UAbs. 1 erhöht sich bei ab dem 01.01.2011 eintretenden tarifvertraglichen Vergütungserhöhungen für unter den Geltungsbereich der A B-C gem. GmbH fallende Ärzte zum gleichen Zeitpunkt um denselben Prozentsatz, um den sich die Vergütung der in der höchsten Entgeltgruppe eingruppierten Ärzte erhöht. Tarifvertragliche Vereinbarungen, die für die Ärzte der A B-C gem. GmbH ein Aussetzen künftiger Tarifsteigerungen beinhalten, finden auch auf dieses Vertragsverhältnis Anwendung.
(2)
Der Arzt erhält des weiteren eine variable, leistungsorientierte Jahresprämienzahlung in Höhe von 32.000,- € … brutto erstmals für das Wirtschaftsjahr 2009, im Rahmen jährlich abgeschlossener Vereinbarungen je nach dem Grad der Zielerreichung.
(3)
Darüber hinaus erhält...