Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Analogleistung. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. offenes Kirchenasyl
Leitsatz (amtlich)
1. Die Dauer des Aufenthalts wird nicht rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 2 Abs 1 S 1 AsylbLG durch ein Kirchenasyl beeinflusst, bei dem die Ausländerbehörde zu jeder Zeit den Aufenthaltsort des Ausländers kennt.
2. Das Kirchenasyl stellt dann weder ein tatsächliches noch ein rechtliches Abschiebehindernis dar; eine Abschiebung kann nötigenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchgesetzt werden. Verzichtet der Staat auf die Durchsetzung der Ausreisepflicht kann das Vollzugsdefizit nicht dem Leistungsberechtigten als rechtsmissbräuchlich angelastet werden.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 12. März 2020 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i. V. m. SGB XII in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 ab 20. Februar 2020 bis zur Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 25. Oktober 2019 zu gewähren.
Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Straße, A-Stadt für das Beschwerdeverfahren gewährt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die vorläufige Gewährung von Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
Der 1997 geborene Antragsteller ist äthiopischer Staatsangehöriger, der am 11. Juni 2015 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste und zunächst in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE) in C-Stadt untergebracht war. Er bezog aufgrund Bescheids des HEAE vom 15. Juni 2015 Leistungen nach § 3 AsylbLG. Mit Bescheid des Regierungspräsidiums D-Stadt vom 22. Juli 2015 wurde der Antragsteller am 22. Juli 2015 der Antragsgegnerin zugewiesen. Mit Bescheid vom 22. Juli 2015 gewährte die Antragsgegnerin ihm für die Zeit vom 22. Juli 2015 bis 30. Juni 2016 Leistungen nach § 3 AsylbLG (Bl. 11 Verwaltungsakte).
Am 25. November 2015 stellte der Antragsteller beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) einen Asylantrag, den dieses mit Bescheid vom 19. Mai 2016 als unzulässig ablehnte, die Abschiebung nach Italien anordnete und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) auf 6 Monate nach dem Tag der Abschiebung befristete. Italien sei gem. Art. 22 Abs. 7 i. V. m. Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig. Hiergegen erhob der Antragsteller am 27. Mai 2016 Klage beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main (Az. 5 K 1731/16.F.A(1)).
Mit Schreiben vom 6. Juli 2016 (Bl. 131 Ausländerakte) zeigte die Evangelische Gemeinde E., A-Stadt, am 8. Juli 2016 gegenüber der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin an, dass sich der Antragsteller ab dem 7. Juli 2016 im Kirchenasyl befinde und gab dabei die konkrete Adresse an, unter der der Antragsteller aufzufinden war. Mit Schreiben vom 26. September 2016 stellte das BaMF fest, dass die Überstellungsfrist am 23. September 2016 abgelaufen sei und eine Entscheidung nun im nationalen Verfahren ergehe. Mit Bescheid vom 22. Februar 2017 (Bl. 139 Ausländerakte) hob das BaMF den Bescheid vom 19. Mai 2016 auf, die Flüchtlingseigenschaft wurde nicht zuerkannt, der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt, der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen, und der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe zu verlassen, die Abschiebung bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde angedroht und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate nach dem Tag der Abschiebung befristet. Seit 27. Februar 2017 verfügte der Antragsteller über eine Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylG, zuletzt verlängert bis zum 2. September 2020 (Bl. 45 GA).
Zum 31. Juli 2016 stellte die Antragsgegnerin die Leistungsgewährung nach dem AsylbLG ein und vermerkte dies in den Akten mit der Bemerkung „verschwunden“ (Bl. 54 Verwaltungsakte). Hierzu ergibt sich aus der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin (Bl. 62 und Bl. 72), dass sich der Antragsteller in der Zeit vom 7. Juli 2016 bis 23. November 2016 im Kirchenasyl befunden habe; für die Zeit ab 24. November 2016 wurde der Antragsteller als wohnhaft unter Anschrift der Evangelischen Gemeinde E. geführt. Mit Bescheid vom 24. November 2016 bewilligte die Antragsgegnerin für die Zeit vom 1. Dezember 2016 bis 31. Oktober 2017 Leistungen ach § 3 AsylbLG. Mit Schreiben vom 31. Mai 2017 (Bl. 95 Verwaltungsakte) teilte die Evangelische Gemeinde E. dem Antragsteller mit, dass das Kirchenasyl abgeschlossen sei, der Antragsteller wurde aufgeforder...