Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht oder bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Leistungsanspruch bei mindestens fünfjährigem gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Ausnahme bei Verlustfeststellung. Bestandskraft. Sozialhilfe für Ausländer. Überbrückungsleistungen. Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers
Leitsatz (amtlich)
Allein die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU 2004 sperrt die Anwendung des § 7 Abs 1 S 4 Halbs 1 SGB 2. Die Bestandskraft der Entscheidung muss nicht eingetreten sein.
Orientierungssatz
Eine Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers zur Erbringung von Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs 3 S 3 bis 6 SGB 12 kommt nicht in Betracht, da diese Leistungen gegenüber den Leistungen nach dem SGB 2 ein aliud darstellen.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 2022 aufgehoben. Der Antrag wird abgelehnt.
Die Beteiligten haben einander in beiden Rechtszügen keine Kosten zu erstatten.
Den Antragstellern wird unter Beiordnung von Rechtsanwältin J., B-Stadt, Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für das Beschwerdeverfahren bewilligt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 15. September bis 31. Dezember 2022.
Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Die Antragsteller zu 1) und 2) sind nach ihren Angaben im November 2011 und die 2005, 2007 und 2009 geborenen Antragsteller zu 3) bis 5) 2012 nach Deutschland eingereist. Die übrigen Antragsteller sind in Deutschland geboren. Der Antragsteller zu 1) betreibt seit November 2012 ein Gewerbe für Schrotthandel in A-Stadt. Die Antragsteller zu 1) und 2) sind seit 1. Mai 2012 ununterbrochen an verschiedenen Meldeadressen in A-Stadt gemeldet.
Die Antragsteller erhielten zuletzt vorläufige Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. März bis 31. August 2022 (Bescheid vom 8. März 2022, Bl. 256 ff. der Verwaltungsakte; Änderungsbescheid vom 25. Juli 2022, Bl. 286 der Verwaltungsakte). Am 19. Juli 2022 (Bl. 284 der Verwaltungsakte) beantragte der Antragsteller zu 1) für sich und die Antragsteller zu 2) und zu 4) bis 8) die Weitergewährung der Leistungen nach dem SGB II. Mit Schreiben vom 25. Juli 2022 (Bl. 296 der Verwaltungsakte) forderte der Antragsgegner mit Verweis auf die Regelungen der §§ 60 ff. Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) und unter Fristsetzung bis zum 8. August 2022 vom Antragsteller zu 1) eine schriftliche Erklärung, wann die Antragstellerin zu 3), C. A., ausgezogen ist und die Vorlage der Abmelde- bzw. Anmeldebescheinigung der Antragstellerin zu 3), C. A., die vorläufige EKS für den Zeitraum vom 1. September 2022 bis 28. Februar 2023 sowie Kontoauszüge für Mai 2022 bis Juli 2022 an. Eine Reaktion der Antragsteller erfolgte nicht.
Mit Bescheiden vom 8. August 2022 (Bl. 237 ff. bzw. Bl. 310 ff. der Ausländerakte) stellte die Beigeladene gegenüber den Antragstellern zu 1) und 2) jeweils fest, dass diese als Unionsbürger für den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr freizügigkeitsberechtigt seien und ordnete jeweils die sofortige Vollziehung dieser Feststellungen an. Dabei verwies die Ausländerbehörde unter anderem darauf, dass die Antragsteller zu 1) und zu 2) eine Vielzahl von Straftaten begangen hätten (insgesamt 20 Verfahren: Diebstahl, Ladendiebstahl, Trickdiebstahl, Leistungserschleichung, Unterschlagung, Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz, aggressives Betteln) und trotz einer selbständigen Tätigkeit mit einem Schrotthandel nicht annähernd in der Lage seien, finanziell für sich und ihre Kinder zu sorgen, sondern bereits Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 192.628,58 Euro bezogen hätten.
Mit Schreiben vom 8. August 2022 (Bl. 301 der Verwaltungsakte) teilte die Ausländerbehörde dem Antragsgegner mit, dass in der aufenthaltsrechtlichen Angelegenheit der Bedarfsgemeinschaft, zu der neben den Antragstellern zu 1) und 2) auch noch die gemeinsamen Kinder, die Antragsteller zu 3) bis 8) gehören, mit Verfügungen vom 8. August 2022 festgestellt worden sei, dass sie als Unionsbürger für den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr freizügigkeitsberechtigt seien. Die zu der Bedarfsgemeinschaft zählenden Personen seien unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aus dem Bundesgebiet aufgefordert worden. Daraufhin lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 9. August 2022 (Bl. 302 der Verwaltungsakte) die Gewährung von Leistungen für die Antragsteller zu 1) und 2) sowie zu 4) bis 8) ab, da die Antragsteller kein Aufenthaltsrecht besitzen würden und die Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung der SGB II Leistungen gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a SGB II entfallen seien. Gegen diesen Bescheid legte die Prozessbevollmächtigte der Antragsteller ...