Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. erneute Erfüllung der Voraussetzungen eines Freizügigkeitsrechts nach Erlass einer Verlustfeststellung. Arbeitnehmerbegriff

 

Leitsatz (amtlich)

1. Werden zeitlich nach Erlass einer Verlustfeststellung gem § 5 Abs 4 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) die Voraussetzungen eines Freizügigkeitstatbestandes neu verwirklicht, so erledigt sich die Verlustfeststellung mit Wirkung für die Zukunft auf andere Weise als durch Zeitablauf iS des § 43 Abs 2 HVwVfG (juris: VwVfG HE).

2. Ungeachtet dessen verpflichten die Leistungsausschlüsse des § 23 Abs 1 S 1 Nr 1 bis Nr 3 SGB XII - anders als § 23 Abs 3 S 7 SGB XII - die Sozialbehörden wie die Sozialgerichte im Bereich der Freizügigkeit der Unionsbürger zu einer materiellen Betrachtungsweise. Dies begrenzte die Tatbestandswirkung einer Verlustfeststellung im Falle eines später entstandenen Aufenthaltsrechts, sofern man nicht von einer Erledigung ausginge.

3. Mit der Struktur des Arbeitnehmerbegriffes in Art 45 AEUV, Art 7 Abs 1 Buchst a RL 2004/38/EG (juris: EGRL 38/2004) und § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU ist die Suche nach festen Untergrenzen der Entlohnung oder Arbeitsstundenzahl unvereinbar.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 5. August 2019 aufgehoben. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 763,50 € für den Zeitraum vom 1. Juli 2019 bis 30. November 2019 zu zahlen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

Dem Antragsteller wird für den Beschwerderechtszug ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Straße, B-Stadt bewilligt.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt die Gewährung von Leistungen zum Lebensunterhalt vorrangig nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Der 1961 geborene Antragsteller ist rumänischer Staatsangehöriger. Nach seinen Angaben seit dem 20. Oktober 2011 hält er sich zusammen mit seiner rumänischen Ehefrau in Deutschland auf.

Mit Bescheid vom 31. August 2017, hatte die Ausländerbehörde des Antragsgegners den Verlust der Freizügigkeit festgestellt und verfügt:

„1. Das Nichtbestehen Ihres Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU) wird gem. § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU festgestellt.

2. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU sind Sie verpflichtet, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen.

3. Sollten Sie dieser Ausreiseverpflichtung nicht spätestens zwei Monate nach Bestandskraft dieser Verfügung nachgekommen sein, wird Ihnen hiermit gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU die Abschiebung aus dem Bundesgebiet nach Rumänien angedroht. Nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 59 Abs. 2 AufenthG (Aufenthaltsgesetz) können Sie auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, wenn Sie in diesen einreisen dürfen oder dieser Staat zu Ihrer Rücknahme verpflichtet ist.“

Dagegen erhob der Antragsteller Klage vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt - 6 K 4545/17.DA -, über die das Verwaltungsgericht noch nicht entschieden hat. Ein entsprechender Bescheid erging auch gegenüber der Ehefrau.

In der Folge stritten die Beteiligten und die Ehefrau des Antragstellers über Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die erwerbstätige Ehefrau und den Kläger, u.a. mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 9. November 2017. Dort gab die Ehefrau des Antragstellers an, seit 2013 mit einem Reinigungsgewerbe selbständig tätig zu sein. Mit dieser Tätigkeit habe sie bis einschließlich Mai 2017 monatlich 500,00 € verdient. Seit Juni 2017 verdiene sie 800,00 € monatlich, ohne dass sie ihre Wochenarbeitsstunden wesentlich erhöht habe. Insoweit wird hinsichtlich des Sachverhalts auf die den Beteiligten bekannten Beschlüsse des Sozialgerichts Darmstadt vom 28. Februar 2018 - S 9 AS 1009/17 - und des Hessischen Landessozialgerichts vom 10. Juli 2018 - L 9 AS 142/18 B ER - verwiesen. Der hiesige Beigeladene wurde im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 1. Dezember 2017 bis zum 31. August 2018 zu gewähren.

Bereits am 18. Dezember 2017 stellte der Rentenversicherungsträger bezüglich des Antragstellers die volle Erwerbsminderung auf Dauer seit (zumindest) 23. Dezember 2015 fest.

Der Antragsteller beantragte nach Aufforderung durch den Beigeladenen am 13. März 2019 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII.

Die Ehefrau gab ihre Tätigkeit zum 1. Februar 2019 auf. Der Antragsteller gibt hierzu an, dies sei unfreiwillig geschehen, seit dem 10. Juni 2019 ist die Ehefrau de...

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