Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistungen nach dem SGB II. Mitwirkungspflicht des Leistungsempfängers. Zulässigkeit von Hausbesuchen. Folgen ihrer Verweigerung. Angemessenheit der Unterhaltskosten. Eilrechtsschutz. Keine vorläufigen Leistungen der Grundsicherung für die Vergangenheit
Leitsatz (redaktionell)
1. Existenzsichernde Leistungen dürfen nicht aufgrund bloßer Mutmaßungen verweigert werden.
2. Mangels ausdrücklicher gesetzlicher Eingriffsermächtigung ist ein Hausbesuch nur bei Erforderlichkeit und auch nur dann zulässig, wenn der Träger der Grundsicherung den Zweck des Hausbesuchs deutlich definiert und – soweit weitere Aufklärungsmöglichkeiten zu Gebote stünden – er keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Privatsphäre darstellt. Vor Durchführung eines Hausbesuchs muss der Grundsicherungsträger daher dem Betroffenen seine berechtigten Zweifel an den jeweiligen Angaben darlegen und in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls beurteilen, ob der Hausbesuch ein taugliches Mittel zur Feststellung des begehrten Bedarfs ist.
3. Grundsicherungsleistungen und Sozialhilfe werden ihrem Wesen nach nur für eine gegenwärtige Notlage geleistet. Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ist daher der Grundsicherungsträger nicht zur Gewährung von Leistungen für die Vergangenheit zu verpflichten.
Normenkette
SGB II § 22 Abs. 1; SGB I §§ 60, 66; SGB X § 21 Abs. 1 Nr. 4; SGG § 86b Abs. 2 Sätze 1-2
Verfahrensgang
SG Wiesbaden (Beschluss vom 15.12.2005; Aktenzeichen S 16 AS 219/05 ER) |
Tenor
I. Auf die Beschwerden der Antragstellerin und der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. Dezember 2005 abgeändert und die Antragsgegnerin verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 27. Oktober 2005 bis zum 26. April 2006 vorläufig darlehensweise die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in gesetzlicher Höhe (Regelsatz, Unterkunftskosten, Heizungskosten) zu gewähren, wobei die Antragsgegnerin berechtigt ist die Unterkunftskosten direkt an die Vermieterin und die Energiepauschale direkt an den Energieversorger ESWE zu entrichten. Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen und der Antrag abgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten der Verfahren zu zwei Dritteln zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II).
Die 1941 geborene Antragstellerin stellte – laut Behördenakte – am 30. September 2005 einen schriftlichen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II bei der Antragsgegnerin, nachdem sie bereits am 28. September 2005 vorgesprochen hatte. Im Abschnitt VIII „Unterhaltspflichtige Angehörige außerhalb der Haushaltsgemeinschaft” gab sie ihre 1973 geborene Tochter und ihren 1941 geborenen Ehemann an. Beide würden für sie keine Unterhaltsleistungen erbringen. Im Zusatzblatt 1 zur „Feststellung der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung” gab sie an, eine 85 qm große Wohnung in W. zu bewohnen. Im Zusatzblatt 2 „Einkommenserklärung/Verdienstbescheinigung” kreuzte sie Einkommen aus selbständiger Tätigkeit in einer geschätzten Höhe in der Zeit vom 1. September 2005 bis zum 30. September 2005 von 212,90 Euro monatlich an. Laut dem am 18. März 2004 geschlossenen Mietvertrag bewohnt die Antragstellerin eine 85 qm große 3-Zimmer-Wohnung für eine monatliche Netto-Miete in Höhe von 665,00 Euro. Die Nebenkosten wurden mit 155,00 Euro beziffert. Am 29. September 2005 schloss die Antragstellerin mit der Antragsgegnerin einen Darlehensvertrag in Höhe von 828,28 Euro, vereinbart mit einer monatlichen Tilgungsrate von 34,50 Euro für die Antragstellerin. Als Darlehensgrund war „Energielieferung” benannt. Hintergrund des Darlehensvertrages war eine durchgeführte Stromsperre der E-Versorgung in W. aufgrund von Zahlungsrückstand.
Mit Schreiben vom 28. September 2005 (Bl. III 22 BA) wies die Antragsgegnerin auf eine angemessene Wohnungsgröße von 50 qm für Alleinstehende hin und darauf, dass der qm-Preis nicht 7,62 Euro pro qm Kaltmiete übersteigen dürfe. Im Verlaufe des Verwaltungsverfahrens legte die Antragstellerin eine Gewerbeabmeldung ihres angemeldeten Gewerbes „F.” zum 23. August 2005 vor. Weiter legte sie eine ärztliche Bescheinigung vom 28. September 2005 vor, mit der ihr eine ärztlich-psychotherapeutische Behandlung seit dem 21. Juni 2005 bestätigt wurde. Es bestünde eine seelische Störung von Krankheitswert, die Arbeitsunfähigkeit bedinge. Die Antragstellerin sei momentan nicht belastbar, ihre Leistungsfähigkeit sei erheblich eingeschränkt. Des Weiteren legte sie die Kontoauszüge über ihr Konto bei der P-Bank vor.
Mit einem weiteren Schreiben vom 28. September 2005 gab ihr die Antragsgegnerin auf, unterschiedliche Unterlagen zur Prüfung der Berechtigung ihres Antrages nach dem SGB II vorzulegen (Bl. III 48 BA). Sie erhielt einen Scheck in Höhe von 100,00 Euro, weil sie angegeben hatte, völlig mittellos zu sein. Aus der von der Antragst...