Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung bzw Rücknahme der Bewilligung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Rückforderung von für einen Zeitraum vor Insolvenzeröffnung zu Unrecht erbrachten Leistungen. Verschweigen von Einkünften. Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10
Orientierungssatz
1. Die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 kann regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung des Betroffenen beginnen (vgl BSG vom 27.7.2000 - B 7 AL 88/99 R = SozR 3-1300 § 45 Nr 42 sowie LSG Hamburg vom 28.4.2021 - L 3 R 4/20 = juris RdNr 42).
2. Die Aufhebung bzw Rücknahme einer Leistungsbewilligung nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ist auch dann zulässig, wenn sie eine Insolvenzforderung betrifft (vgl LSG Halle vom 9.10.2014 - L 5 AS 673/13).
3. Ein Sozialleistungsträger ist nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens (hier: bereits in der Wohlverhaltensphase) hingegen nicht berechtigt, die für einen Zeitraum vor Insolvenzeröffnung zu Unrecht erbrachten Leistungen zurückzufordern.
4. Von einer Anspruchsbegründung iS des § 38 InsO ist bereits dann auszugehen, wenn der Rechtsgrund für das Entstehen des Anspruchs bereits vor Insolvenzeröffnung gelegt war (Anschluss an BSG vom 17.5.2001 - B 12 KR 32/00 R = BSGE 88, 146 = SozR 3-2400 § 24 Nr 4).
5. Das die übrigen Rechtsgebiete überlagernde Insolvenzrecht (vgl dazu BFH vom 13.11.2002 - I B 147/02 = BFHE 201, 80) hat für das öffentliche Recht - wie für alle anderen Rechtsbereiche auch - zur Folge, dass Rückforderungen, die auf Sachverhalten vor Verfahrenseröffnung beruhen, Insolvenzforderungen und damit grundsätzlich nicht auf der Grundlage eines Verwaltungsaktes zu realisieren, sondern im Insolvenzverfahren nach § 87 InsO zu verfolgen sind.
6. Aus § 51 Abs 2 SGB 1 kann nicht abgeleitet werden, dass der Sozialleistungsträger zwecks Schaffung der Voraussetzungen der Aufrechnung entgegen § 89 InsO doch berechtigt wäre, einen Erstattungsbescheid zu erlassen.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufungen der Klägerin und der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 21. März 2019 werden zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin für beide Instanzen die Hälfte ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Aufhebung der Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente und Erstattung gewährter Leistungen in Höhe von 17.529,60 Euro.
Die Klägerin erhielt von der Beklagten ab dem 1. März 2005 (Ausgangsbescheid vom 18. Januar 2006) - jeweils zeitlich befristet - eine Erwerbsminderungsrente. In ihrem Rentenantrag, den Weiterbewilligungsanträgen sowie auf weiteren Formularen gab die Klägerin an, kein Beschäftigungsverhältnis zu haben bzw. keine selbständige Tätigkeit auszuüben.
Unter anderem bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 21. September 2006 der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 1. Januar 2007 bis 30. September 2007 mit einem monatlichen Zahlbetrag von 549,10 Euro. Sodann bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 24. August 2007 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit für die Zeit vom 1. Oktober 2007 bis 31. März 2010. Die monatliche Rente wurde festgesetzt mit einem Zahlbetrag von 552,04 Euro. Mit Bescheid vom 6. November 2008 stellte die Beklagte die Rente für die Zeit vom 1. Januar 2007 bis 31. März 2010 mit einem monatlichen Zahlbetrag von 552,44 Euro (ab 1. Januar 2009) endgültig fest. Außerdem gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Januar 2010 der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für den Zeitraum vom 1. April 2010 bis 30. April 2011, wobei sie verfügte, dass für die Berechnung der Rente der Bescheid vom 6. November 2018 gilt.
Durch ein Schreiben der Polizeidirektion C-Stadt vom 5. Mai 2014 erhielt die Beklagte Kenntnis von einem laufenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen die Klägerin wegen Betrugsverdachts. Darin heißt es, es bestehe zumindest der Anfangsverdacht, dass die Klägerin gewerbliche Einkünfte aus einem Sattel- und Reitsporthandel in den Jahren 2006 bis 2011 der Beklagten nicht mitgeteilt habe, obwohl sie in diesem Zeitraum auch eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bezogen habe. Die Staatsanwaltschaft bitte um Klärung durch die Beklagte, ob die in der Anlage zu dem Schreiben aufgeführten Einkünfte (Umsatz von insges. 218.564,43 Euro; Gewinn von insges. 48.473,55 Euro) der Beklagten mitgeteilt worden seien.
Daraufhin nahm die Beklagte ihre Ermittlungen auf.
Mit Beschluss des Amtsgerichts Eschwege vom 2. Juli 2014 (Az. 3 IK 79/14) wurde das Privatinsolvenzverfahren über das Vermögen der Klägerin am selben Tag eröffnet. Der Insolvenzbeschluss wurde am 31. August 2015 aufgehoben.
Ausweislich der Verwaltungsakte ging erstmals am 3. September 2015 bei der Beklagten eine Mitteilung betreffend das Privatinsolvenzverfahren ein. Mit an diesem Tag bei der Beklagten...