Entscheidungsstichwort (Thema)
Zahlung von freiwilligen Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung. Zahlungsfrist. keine besondere Härte wegen des Verlusts einer Anwartschaft iS von § 197 Abs 3 SGB 6 bei bisher nie erfüllter Wartezeit. Verdrängung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs durch § 197 Abs 3 SGB 6. Verschulden iS des § 197 Abs 3 SGB 6. analoge Anwendung des § 86 SGG auf vor Erlass eines Widerspruchsbescheides ergangene negative Überprüfungsbescheide
Leitsatz (amtlich)
1. Eine besondere Härte wegen des Verlusts einer Anwartschaft iS von § 197 Abs 3 SGB VI liegt nicht vor, wenn eine Anwartschaft mangels Erfüllung der Wartezeit für die begehrte Rente nie bestand.
2. Für die Zeit ab 1.1.1992 schließt § 197 Abs 3 SGB VI eine Zulassung zur Nachzahlung freiwilliger Beiträge auf der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aus. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch wird durch § 197 Abs 3 SGB VI verdrängt und gelangt daneben nicht zur Anwendung.
Orientierungssatz
1. § 86 SGG ist auf vor Erlass eines Widerspruchsbescheides ergangene negative Überprüfungsbescheide analog anwendbar (vgl BSG vom 4.3.2014 - B 1 KR 64/12 R = BSGE 115, 158 = SozR 4-2500 § 186 Nr 4, RdNr 9).
2. Zum Leitsatz 1 vgl LSG Stuttgart vom 14.12.2017 - L 10 R 2182/16.
3. Ein fehlendes Verschulden iS des § 197 Abs 3 SGB 6 liegt nicht vor, wenn der Versicherte die Zahlung von Beiträgen früher lediglich für unzweckmäßig erachtete (vgl BSG vom 17.5.2001 - B 12 RJ 1/01 R = SozR 3-2600 § 197 Nr 2).
Normenkette
SGB VI § 197 Abs. 1-2, 3 Sätze 1-2, Abs. 4, § 8 S. 2, § 37 Abs. 1 Nr. 3, §§ 43, 207, 235 Abs. 2 S. 1, §§ 236a, 240, 241 Abs. 2; SGB X §§ 27, 31 S. 1, § 39 Abs. 2, § 44; SGB I § 14; BGB §§ 133, 276; RVO § 1418 Abs. 2-3; AVG § 140 Abs. 2-3; SGG § 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, §§ 56, 77, 86, 95, 99 Abs. 3 Nr. 2, § 112 Abs. 2 S. 2, § 153 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 197 Abs. 3
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 27. Oktober 2020 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Zulassung zur Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen.
Der 1960 geborene Kläger ist seit dem 1. März 2002 Mitglied im Versorgungswerk der Steuerberater Hessen. Er wurde für die Zeiten vom 1. August 1977 bis 31. Juli 1980, 1. August 1981 bis 31. August 1982 und 27. September 1982 bis 4. Oktober 1982 in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert und hat vom 13. April 1988 bis 30. April 1989 und 22. Mai 1989 bis 28. Februar 2002 Pflichtbeitragszeiten sowie für die 35-jährige Wartezeit 282 Monate (218 Monate Beitragszeiten; 64 Monate Anrechnungszeiten) zurückgelegt. Mit Wirkung ab 21. November 2016 ist dem Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 zuerkannt worden.
Mit Schreiben vom 12. Mai 2002 erklärte der Kläger gegenüber der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), er wolle von der Versicherungspflicht befreit werden, und bat außerdem um Prüfung und Mitteilung, ob er durch Zahlung freiwilliger Beiträge den Berufsunfähigkeitsschutz aufrechterhalten könne. Mit Bescheid vom 16. Mai 2002 befreite die BfA den Kläger antragsgemäß ab 1. März 2002 von der Versicherungspflicht, und wies ihn darauf hin, wegen der von ihm aufgeworfenen Frage gesondert benachrichtigt zu werden.
Mit Schreiben vom 23. Mai 2002 übersandte die BfA dem Kläger ein Antragsformular auf Zahlung von freiwilligen Beiträgen. Einen entsprechenden Antrag stellte der Kläger seinerzeit nicht.
Durch Widerspruchsbescheid vom 2. November 2004 wies die BfA den Widerspruch des Klägers gegen ihren Bescheid vom 24. August 2004 zurück, mit dem sie im Rahmen eines Kontenklärungsverfahrens eine Anrechnungszeit wegen Hochschulausbildung auch für die Zeit vom 3. Oktober 1986 bis 12. April 1988 mit der Begründung abgelehnt hatte, dass der Kläger bereits am 2. Oktober 1986 seine Hauptdiplomprüfung absolviert habe.
In einem weiteren Kontenklärungsverfahren machte der Kläger unter dem 26. Juni 2009 abermals erfolglos die Unrichtigkeit des ihm übersandten Versicherungsverlaufs geltend. Auf seinen Hinweis, er habe auch vom 3. Oktober 1986 bis 12. April 1988 studiert, ging die Beklagte nicht weiter ein. Eine Entscheidung hierüber traf sie mit ihrem Bescheid vom 10. Juli 2009 nicht.
Mit Schreiben vom 26. Juli 2015 fragte der Kläger bei der Beklagten an, ob er für seine Hochschulzeit vom 5. Oktober 1982 bis 12. April 1988 freiwillige Beiträge nachzahlen könne. Mit weiterem Schreiben vom 16. August 2015 legte der Kläger außerdem die Bescheinigung der Universität C-Stadt vom 3. August 2015 vor, wonach er im Studiengang Wirtschaftswissenschaften am 2. Oktober 1986 das Diplom I und am 12. April 1988 das Diplom II abgeschlossen hatte, wobei er erneut darauf hinwies, dass somit auch der Zeitraum vom 2. Oktober 1986 bis 12. April 1988 als Anrechnungszeit berücksi...