Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur Rentenversicherung im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs
Orientierungssatz
1. Eine Zulassung zur Beitragsnachentrichtung wegen eines Beratungsmangels im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs setzt u. a. voraus, dass die Pflichtverletzung eines Versicherungsträgers für den eingetretenen sozialrechtlichen Nachteil kausal gewesen ist.
2. Bei der Beurteilung des Beratungsmangels ist die jeweilige konkrete Beratungssituation maßgeblich.
3. Trotz eines bestehenden Beratungsmangels fehlt es dann an der erforderlichen Kausalität zwischen Beratungsunterlassung und Nachentrichtung der Beiträge durch den Versicherten, wenn dieser aufgrund seiner damaligen wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage war, die erforderlichen monatlichen freiwilligen Mindestbeiträge für die Aufrechterhaltung seiner Rentenanwartschaft aufzubringen. Der Regelsatz des SGB 2 bzw. des SGB 12 für einen Bezieher von Grundsicherungs- bzw. Sozialhilfeleistungen reicht nicht aus, um regelmäßig monatlich freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung aufbringen zu können.
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 23. September 1993 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin beansprucht von der Beklagten Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Die 1947 geborene Klägerin hat zwischen April 1961 und Juni 1975 als Montagearbeiterin versicherungspflichtig gearbeitet. Anschließend bezog sie - abgesehen von zwei Kurzzeittätigkeiten im Jahre 1976 - Leistungen von der Arbeitsverwaltung bis 22. November 1986 (Wegfall der Arbeitslosenhilfe). Für die Folgezeit vom 23. November 1986 bis 31. Januar 1990 enthält ihr Versicherungsverlauf eine Lücke. Vom 1. Februar 1990 bis 20. Juni 1990 arbeitete die Klägerin versicherungspflichtig als Hausangestellte. Im Juni 1990 erlitt sie einen Herzinfarkt und ist seitdem erwerbsunfähig.
Den am 19. April 1991 von der Klägerin gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Juli 1991 wegen fehlender versicherungsrechtlicher Voraussetzungen ab. Der dagegen erhobene Widerspruch war erfolglos (Bescheid vom 29. November 1991), ebenso das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main (Urteil vom 23. September 1993) und das anschließende Berufungsverfahren (Senatsbeschluß vom 24. Januar 1994). Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin habe zwar die allgemeine Wartezeit von 60 Kalendermonaten Versicherungszeit erfüllt und sei seit dem Infarktgeschehen am 11. Juni 1990 nicht mehr in der Lage, Arbeiten von wirtschaftlichem Wert zu verrichten. Sie habe jedoch nicht - wie es seit 1984 erforderlich sei - zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalles eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt. Selbst bei Berücksichtigung von sogenannten Aufschubzeiten seien während der letzten 60 Kalendermonate vor Eintritt des Versicherungsfalles am 11. Juni 1990 nur 22 und nicht die erforderlichen 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt. Der Versicherungsfall sei auch nicht durch einen der in § 1252 der Reichsversicherungsordnung (RVO) genannten Tatbeständen eingetreten und auch die Übergangsregelung des Artikel 2 § 6 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) komme nicht zum Zuge, weil die Klägerin nicht nach 1984 fortlaufend freiwillige Beiträge entrichtet habe. Die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge, wie sie es angeboten habe, könne nicht mehr erfolgen.
Auf die Beschwerde der Klägerin wurde die Revision gegen den Senatsbeschluß vom 24. Januar 1994 zugelassen. Mit ihrer Revision machte die Klägerin geltend, die Arbeitslosenhilfe sei ihr entzogen worden, weil sie aufgrund der Zahlung von Pflegegeld vom Sozialamt nicht mehr bedürftig gewesen sei und aufgrund der umfassenden Pflegebedürftigkeit ihres Vaters dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung gestanden habe. Das Arbeitsamt habe von diesem Sachverhalt gewußt, sie aber seinerzeit bei dem Entzug der Arbeitslosenhilfe nicht dahin beraten, daß sie sich nunmehr freiwillig versichern müsse, um ihre Rentenanwartschaften für den Fall der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nicht zu verlieren. Bei entsprechender Beratung hätte sie rechtzeitig während der Pflege ihres Vaters freiwillige Beiträge aus dem Pflegegeld und nach dem Tode ihres Vaters aus ihren Einkünften als nicht versicherungspflichtig beschäftigte Hausangestellte entrichtet und so ihre Anwartschaften aufrechterhalten. Das Unterlassen der Beratung durch das Arbeitsamt sei der Beklagten zuzurechnen, so daß ihr, der Klägerin, im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs entsprechend ihrem Antrag die Nachentrichtung der fehlenden Beiträge für den noch offenen Zeitraum zu gestatten sei. Das Vorliegen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei bisher nicht geprüft wor...