Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Behinderungsausgleich dient nicht nur als Minimalversorgung. selbstbestimmte und selbstständige Bewegung ohne fremde Hilfe
Orientierungssatz
1. Der Anspruch auf ein Hilfsmittel der GKV zum Behinderungsausgleich ist nicht auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt. Ein Anspruch auf Versorgung im notwendigen Umfang kommt dann in Betracht, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen.
2. Der Aspekt der selbstbestimmten Bewegungsfreiheit ohne fremde Hilfe ist bei der Hilfsmittelversorgung zur Erschließung des Nahbereichs zu beachten.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 13. Februar 2020 wird dessen Tenor zu I. wie folgt geändert:
Der Bescheid vom 10. Dezember 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. April 2016 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb Typ „dynagil AP“ zu versorgen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Hilfsmittelversorgung mit einem Handbike mit Elektromotor Typ „dynagil AP“.
Der 1958 geborene Kläger leidet seit einem Unfall im Jahr 1978 an einer Querschnittslähmung C 6/7 mit Tetraplegie. Ein Grad der Behinderung von 100 mit den Merkzeichen aG, H, RF, B und G sowie der Pflegegrad 5 sind festgestellt. Von der Beklagten ist er mit einem Faltrollstuhl versorgt. Zusätzlich war ihm von der Beklagten ein E-Fix-Antrieb zur Verfügung gestellt worden, der jedoch zwischenzeitlich nach Rücksprache mit der Beklagten wegen eines Defekts entsorgt wurde.
Am 27.11.2015 beantragte der Kläger unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung, eines krankengymnastischen Befundes und eines Kostenvoranschlags der C. GmbH die Versorgung mit dem Handbike mit Elektromotor „dynagil AP“ mit Tetra-Sonderzubehör zum Preis von 9.882,57 Euro. Nach Angabe des verordnenden Arztes solle das Hilfsmittel 3 bis 4 Mal pro Woche eingesetzt werden und diene zur Besserung der Beweglichkeit und zur Teilnahme am dörflichen Leben.
Mit Bescheid vom 10.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.04.2016 lehnte die Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, Radfahren bei Erwachsenen gehöre nicht zu den Grundbedürfnissen und der Kläger könne sich den Nahbereich mit dem - damals noch vorhandenen - E-Fix-Elektroantrieb ausreichend erschließen; das beantragte elektrische Handbike sei dazu und zur Sicherung der ärztlichen Behandlung nicht notwendig. Dabei stützte sich die Beklagte auf das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen (MDK) vom 02.02.2016.
Dagegen hat der Kläger am 28.04.2016 Klage zum Sozialgericht Gießen erhoben. Er hat vorgetragen, dass er mit den vorhandenen Hilfsmitteln nur bis zur Grundstückgrenze komme und auch keine Bordsteinkanten überwinden oder Gefällstrecken befahren könne. Das beantragte Handbike würde ihn in die Lage versetzen, ohne fremde Hilfe sein Haus zu verlassen, um im Nahbereich seiner Wohnung seine benötigten Lebensmittel einzukaufen.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch die Einholung des Sachverständigengutachtens von Dr. D. vom 20.12.2018. Dieser hat, ergänzend durch seine Stellungnahme vom 27.11.2019, u.a. ausgeführt, dass die Versorgung mit dem Handbike erforderlich sei, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern und einem drohenden Fortschreiten der Behinderung vorzubeugen sowie die Behinderung des Klägers auszugleichen.
Mit dem Urteil vom 13. Februar 2020 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 10.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.04.2016 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb Typ „dynagil AP“ in Höhe von 9.882,57 Euro zu versorgen. Zur Begründung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass Versicherte gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln haben, die im Einzelfall erforderlich seien, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen seien.
Im Ausgangspunkt bemesse sich die Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung im Bereich des Behinderungsausgleichs nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (z.B. Urteil vom 18.05.2011, B 3 KR 10/10 R) danach, ob eine Leistung zum unmittelbaren oder mittelbaren Behinderungsausgleich beansprucht werde. Im Fall des mittelbaren Behinderu...