Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Rechtsweg zu den Sozialgerichten. Abgrenzung zur Amtshaftung. sozialgerichtliches Verfahren. Altfall. Übergangsregelung -unangemessene Dauer. Prozesszinsen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Rechtswegzuweisung des § 202 S 2 SGG verstößt nicht gegen Art 34 GG. § 198 GVG gewährt keinen Amtshaftungsanspruch, sondern einen aufopferungsähnlichen Entschädigungsanspruch, der verhaltens- und verschuldensunabhängig als Erfolgsunrecht im Wesentlichen nur das Ergebnis eines Staats- oder Systemversagens in Gestalt einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens voraussetzt. Das Bestehen eines Anspruches nach § 198 GVG indiziert keine Amtspflichtverletzung.
2. Auf den Anspruch aus § 198 GVG wegen der unangemessenen Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens sind §§ 291, 288 Abs 1 BGB entsprechend anzuwenden.
3. Zur Auslegung der Übergangsregelungen des Art 23 S 5 und 6 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜberlVfRSchG).
4. Einzelfall der unangemessenen Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung (Verzögerung von einem Jahr bei einer Dauer von 7 Jahren 11 Monaten und einem Tag in zwei Instanzen).
Tenor
I. Das beklagte Land wird verurteilt, an den Kläger 1.200,00 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 4. Juni 2012 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Das beklagte Land hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt eine Entschädigung für die Dauer eines unfallversicherungsrechtlichen Gerichtsverfahrens vor dem Sozialgericht Marburg (S 3 U 766/01 bzw. S 7 U 732/03) und vor dem Hessischen Landessozialgericht (zuletzt: L 9 U 103/06).
Er erlitt im Jahr 1991 einen Sportunfall mit einer Knieverletzung. Im Jahr 1994 wurde er bei einem Autounfall geschädigt. Er leidet an verschiedenen Behinderungen, u. a. einer funktionellen Blindheit des rechten Auges bei angeborenem Schielfehler mit fehlendem räumlichen Sehvermögen, ferner einem ständigen Hochtontinnitus beidseits, einem HWS-Syndrom, einer Kreuzbandinstabilität des rechten Kniegelenks und an beginnenden Verschleißerscheinungen am linken Kniegelenk. Nach dem Abitur im Jahre 1991 nahm er zunächst ein Lehramtsstudium auf. Im Wintersemester 1996/1997 brach der Kläger dieses Studium ab und begann im Folgenden ein Studium der Rechtswissenschaften, das er zeitweise unterbrach und letztlich ebenfalls nicht mit einem Abschluss beendete.
1996 wurde dem Kläger rückwirkend wegen des Unfallereignisses aus dem Jahr 1991 Verletztenrente bewilligt. Darüber hinaus führte er Rechtsstreite über diverse Leistungen der Gesetzlichen Unfallversicherung, u.a. über die Weiterbewilligung der Verletztenrente sowie insbesondere über Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben bzw. der beruflichen Rehabilitation gegenüber verschiedensten Sozialleistungsträgern. Allein vor dem Hessischen Landessozialgericht sind gegenwärtig 65 erledigte und anhängige Haupt- und Nebenverfahren seit 1999 verzeichnet.
Durch Bescheid vom 22. April 2002 lehnte die Unfallkasse Hessen - die Beklagte des Ausgangsverfahrens - die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ab. Zur Begründung führte sie aus, dass ein Anspruch hierauf nur in Betracht komme, sofern aufgrund der Unfallfolgen die bisherige Tätigkeit auf Dauer nicht mehr wettbewerbsfähig ausgeübt werden könne. Der Kläger habe im Jahr 1991 seine Schulausbildung mit dem Abitur beendet. Danach habe er im Herbst 1993 ein Lehramtsstudium begonnen. Seit 1997 studiere der Kläger Rechtswissenschaften mit Unterbrechungen aus finanziellen Gründen. Da er zu diesem Zeitpunkt noch für das Fach immatrikuliert sei, sei nicht erkennbar, dass der Kläger das Jurastudium aufgrund der Unfallfolgen nicht habe fortsetzen können. Der hiergegen erhobene Widerspruch vom 23. Mai 2002 wurde durch Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 2002 mit der Begründung zurückgewiesen, dass aus den vorliegenden Unterlagen, den fachärztlichen Gutachten und den anerkannten Unfallfolgen sich nicht ableiten ließe, dass der Kläger eine angemessene Erwerbstätigkeit nicht erlernen könne. Aufgrund der Unfallfolgen würden keine erheblichen Beeinträchtigungen vorliegen, die einem Studium der Rechtswissenschaften und der sich daraus ergebenden beruflichen Tätigkeit bzw. dem Erlernen einer Bürotätigkeit entgegenstünden.
Durch die Klageerweiterung eines bereits beim Sozialgericht Marburg seit dem 16. Oktober 2001 anhängigen Verfahrens mit dem Streitgegenstand der Gewährung von Maßnahmen der Heilbehandlung seitens der Unfallkasse Hessen - S 3 U 766/01 - vom 13. November 2002 begehrte der Kläger die Aufhebung des Bescheides vom 22. April 2002 und des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2002 und beantragte die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben sowie von unte...