Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Brustverkleinerung. Anspruch auf Krankenbehandlung wegen Entstellung. Krankheit. Kostenerstattung. Krankenhausbehandlung. Eingriff in ein funktionell intaktes Organ. Ursächlicher Zusammenhang zwischen Brustgröße und Rückenbeschwerden. Zahlungsverpflichtung des Versicherten
Orientierungssatz
Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Anomalität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit erzeugt und damit zugleich erwarten lässt, dass die Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung Anderer wird und sich deshalb aus dem Leben der Gemeinschaft zurückzuziehen oder zu vereinsamen droht, so dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist (vgl BSG vom 28.2.2008 - B 1 KR 19/07 R = BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14).
Normenkette
SGB V § 27 Abs. 1 S. 1, § 13 Abs. 3 S. 1
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 24. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Erstattung der Kosten für eine beidseitige Mamma-Reduktionsplastik, welche die Klägerin stationär im Universitätsklinikum Gießen und Marburg im Februar 2011 durchführen hatte lassen.
Die 1965 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie ist Mutter zweier im Jahre 1989 und 1999 geborener Kinder. Bei ihr war Anfang 2006 ein Bandscheibenvorfall im Wirbelsäulensegment L4/5 aufgetreten, der am 10.03.2006 operativ behandelt worden war. Im November 2006 war ein zweiter Bandscheibenvorfall aufgetreten, der konservativ behandelt worden war. Mit Schreiben vom 01.07.2010 des Oberarztes Dr. C., tätig am Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Klinik für Gynäkologie, gyn. Endokrinologie und Onkologie, Standort Marburg, hatte die Klägerin die Kostenübernahme für eine beidseitige Brustverkleinerung beantragt. Dr. C. führte aus, eine Brustverkleinerung würde eine massive Entlastung der Wirbelsäule der Klägerin und damit auch eine wirksame Prophylaxe gegen weitere drohende Operationen bringen. Die Klägerin sei früher deutlich übergewichtig gewesen und habe es geschafft, ihr Körpergewicht um ca. 40 Kilogramm zu senken. Der beabsichtigte Eingriff sei in der besonderen Situation der Klägerin auch als echte Gesundheitsprophylaxe im Hinblick auf weitere Wirbelsäulenschäden zu sehen. Die Beklagte holte beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) ein sozialmedizinisches Gutachten nach Aktenlage unter Auswertung diverser Facharztberichte ein. Dr. D. führte in ihrer ärztlichen Stellungnahme vom 25.10.2010 aus, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Mamma-Hypertrophie und Rückenbeschwerden sei nicht belegt. Es fehlten Angaben über die in letzter Zeit durchgeführten Behandlungen der Wirbelsäulenbeschwerden. Letztere könnten durch konsequente haus- und fachärztliche Behandlung, physikalische Therapie, Krankengymnastik, bedarfsweise medikamentös behandelt werden. Hierauf lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 04.11.2010 die Kostenübernahme für die beantragte Mamma-Reduktionsplastik ab. Die Klägerin legte Widerspruch ein und übermittelte eine schriftliche Stellungnahme des Dr. C. vom 18.11.2010. Darin heißt es, seit 1921 sei in der medizinischen Literatur verankert, dass einen Zusammenhang zwischen Mamma-Hypertrophie und Rückenbeschwerden gebe. Die Beklagte holte eine weitere Stellungnahme des MDK nach Aktenlage ein. Dr. F. führte darin unter dem 30.12.2010 aus, es ergäben sich keine neuen medizinischen Sachverhalte. Das Vorgutachten sei zutreffend.
Während der Laufzeit des Widerspruchsverfahrens ließ die Klägerin im Universitätsklinikum Gießen und Marburg am 15.02.2011 eine Mamma-Reduktionsplastik beidseits durchführen, wobei linksseitig 1.139 Gramm und rechtsseitig 1.045 Gramm an Gewebemasse entfernt wurden. Die histologische Untersuchung des entfernten Brustgewebes ergab keinen pathologischen Befund. Die stationäre Behandlung dauerte vom 14.02.2011 bis zum 19.02.2011. Nach den im Gerichtsverfahren vorgelegten Unterlagen hatte die Klägerin mit dem Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH einen Vertrag “bezüglich einer gewünschten operativen Leistung„ (Wahloperation) zur “Brustverkleinerung„ abgeschlossen. In dem Vertragstext heißt es, die vorstehende Operation wird zu einem Pauschalpreis einschließlich Mehrwertsteuer in Höhe von 5.200,00 € durchgeführt. Bei der Wahlleistung handele es sich nicht um eine Maßnahme, die zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehöre. Im Pauschalpreis seien enthalten Beratung und Aufklärung, Durchführung des operativen Eingriffs inklusive Narkoseleistung, postoperative stationäre Nachbetreuung sowie zweimalige postoperative ambulante Kontrolluntersuchungen. Im Widerspruchsverfahren...