Entscheidungsstichwort (Thema)

Teilweise Aufhebung eines Bescheides über die Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund unterbliebener Einkommensanrechnung. Sorgfaltspflichtverletzung. psychische Gesundheitsstörung. individuelle Einsichts- und Urteilsfähigkeit

 

Orientierungssatz

Der Bezug einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund psychischer Gesundheitsstörungen allein vermag die individuelle Einsichts- und Urteilsfähigkeit, die im Rahmen der Prüfung der Frage, ob ein Rentenbezieher die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß iS des § 48 Abs 1 S 2 Nr 4 SGB 10 verletzt hat, berücksichtigt werden muss, nicht auszuschließen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 28.11.2023; Aktenzeichen B 5 R 118/23 B)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 2. November 2021 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander für die Berufungsinstanz keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Aufhebung und Erstattung von Rente wegen voller Erwerbsminderung wegen Hinzuverdienstes der Klägerin für den Zeitraum vom 1. August 2012 bis 30. November 2014 in Höhe von zuletzt noch 3.278,26 €.

Die Beklagte bewilligte der 1952 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 1. Dezember 2011 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. September 2011. Die Klägerin hatte bereits zuvor seit dem 12. April 2011 Krankengeld bezogen. Ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. vom 5. September 2011 kam u.a. zu der Diagnose einer depressiven Störung, mittelgradig ausgeprägt, und einer Leistungsfähigkeit der Klägerin sowohl in ihrem letzten Beruf als kaufmännischer Angestellten als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von drei bis unter sechs Stunden. Eine Wiederherstellung der vollschichtigen Erwerbsfähigkeit sei innerhalb Jahresfrist durch fortgesetzte ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung zu erwarten. Die depressive Störung sei ausgelöst durch verschiedene Umfeldbelastungen im familiären Bereich sowie chronische Schmerzzustände. Die Klägerin hatte von Partnerschaftskonflikten mit ihrem Ehemann berichtet, der auf ihr Betreiben hin wegen zunehmender Verhaltensauffälligkeiten (Selbstmorddrohung und aggressiven Verhaltens) stationär psychiatrisch behandelt werde. Nach Widerspruchseinlegung reichte die Klägerin eine Stellungnahme der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H. vom 6. Februar 2012 ein, wonach bei der Klägerin wegen der Belastungen rund um ihren Ehemann und ihre Scheidung inzwischen eine rezidivierende depressive Störung in Form einer schweren Episode vorliege. Die Klägerin gab zudem an, eine Fortführung ihrer Beschäftigung bei ihrem Ehemann sei nicht möglich.

In einer Anfrage der Beklagten vom 18. Mai 2012, Rückantwort eingegangen bei der Beklagten am 14. Juni 2012, erkundigte sich die Beklagte danach, ob die Klägerin in einem Arbeitsverhältnis stehe und bat darum, den Arbeitgeber einen entsprechenden Vordruck zukommen zu lassen. Auf dem der Beklagten zurückgesendeten Formular gab die Klägerin handschriftlich an, sie beziehe noch Krankengeld bis ca. August 2012. Ausweislich eines Vermerks in der Verwaltungsakte der Beklagten vom 11. Juni 2012 hatte die Klägerin zuvor telefonisch mitgeteilt, dass sie getrennt von ihrem Ehemann lebe. Dieser sei ihr Arbeitgeber. Das Formular zur Arbeitgeberbescheinigung werde sie ggfs. an den Steuerberater des Ehemannes geben. Die Beklagte teilte mit, dass sie ersatzweise auch Gehaltszettel für März und April 2011 berücksichtigen könne. Die Klägerin habe angegeben, außer Krankengeld und Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung keine weiteren Einkünfte zu haben. Zur Akte gelangte eine Arbeitgeberbescheinigung des Arbeitgebers S. 1-3D-Messtechnik vom 12. Juni 2012, wonach die Klägerin im März 2011 eine Bruttoarbeitsentgelt von 684,00 € sowie im April 2011 ein Bruttoarbeitsentgelt von 250,80 € erzielt hatte. Zur Akte gelangten zudem entsprechende Gehaltsmitteilungen für März und April 2011.

Die Beklagte half dem Widerspruch ab und bewilligte der Klägerin mit Rentenbescheid vom 22. Juni 2012 nunmehr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer ab dem 1. März 2011. Berücksichtigt wurde Hinzuverdienst im März 2011 in Höhe von 684,00 €, im April 2011 in Höhe von 250,80 € und ab Mai 2011 keinerlei Hinzuverdienst mehr. Unter der Überschrift „Mitteilungspflichten und Mitwirkungspflichten“ führte die Beklagte aus: „Bitte teilen Sie uns unverzüglich mit, wenn Sie eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit aufnehmen oder ausüben. Ihre Rente wegen voller Erwerbsminderung kann dann wegfallen. ... Ihre Rente wegen voller Erwerbsminderung wird nicht oder in verminderter Höhe gezahlt, sofern durch Einkommen die für diese Rente maßgebende Hinzuverdienstgrenze überschritten wird. Die Hinzuverdienstgrenze finden ...

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