Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankenhausbehandlung. Potentialmethode. Erforderlichkeit der neuen Behandlungsmethode. keine zur Verfügung stehende Standardtherapie bei Risiken der innovativen Methode. Wirtschaftlichkeitsgebot. keine Kontraindikation oder Unwirksamkeit der Standardtherapie im Einzelfall
Orientierungssatz
1. Nach dem Wortlaut des § 137c Abs 3 S 1 SGB 5 muss für einen Anspruch der Versicherten die neue Methode mit entsprechenden Potential eine „erforderliche“ Behandlungsmethode sein. Daran fehlt es, wenn eine Standardtherapie zur Verfügung steht und Risiken existieren, die sich aus dem Einsatz innovativer Methoden (nur) mit dem Potential, nicht aber mit der Gewissheit einer erforderlichen Behandlungsalternative ergeben können.
2. § 137c Abs 3 S 1 SGB 5 spricht das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs 1 SGB 5 an und fordert bei mehreren zur Verfügung stehenden Behandlungsalternativen den Weg des gesicherten Nutzens.
3. Eine andere Standardmethode ist dann nicht verfügbar, wenn alle in Betracht kommenden Standardbehandlungen kontraindiziert sind oder sich als nicht wirksam erwiesen haben (vgl BSG Urteil vom 25. März 2021 - B 1 KR 25/20 R = BSGE 132, 67 = SozR 4-2500 § 137c Nr 15, RdNr 42).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 14. Februar 2019 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren der Anspruch der Klägerin auf Übernahme der Kosten einer stationär durchzuführenden Liposuktion an beiden Armen und Beinen einschließlich Hüften sowie am Nacken streitig.
Am 15. Juni 2018 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine Liposuktion an den streitigen Körperbereichen unter Vorlage eines Kostenvoranschlags einer ambulanten Behandlung in Höhe von 15.900,00 €. Sie leide an Lipödem im Stadium III und Multipler Sklerose (MS). Zur Behandlung der MS benötige sie dringend Injektionen des Medikaments Interferon (Rebif). Jedoch dürften Ödempatienten zur Vermeidung von Verletzungen der Lymphbahnen an Armen und Beinen nicht gespritzt werden. Auch könnten die unerträglichen, durch das Lipödem bedingten Schmerzen nur noch durch die beantragte Maßnahme gelindert werden.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 19. Juni 2018 die Übernahme der Kosten einer ambulanten Liposuktion ab. Es handele es sich hierbei um eine sogenannte neue Behandlungsmethode, die nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gehöre. Solange der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) eine neue Behandlungsmethode nicht anerkannt habe, sei eine Kostenübernahme nicht möglich. Dies sei bereits mehrfach vom Bundessozialgericht (BSG) bestätigt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2015, 1 BvR 347/98) könne ein Leistungsanspruch bestehen, wenn eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung bestehe oder akut eine schwere, irreversible Behinderung oder Pflegebedürftigkeit drohende und eine allgemein anerkannte, dem medizinische Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stehe. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor, da das Lymphödem keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung sei. Zudem stünden konservative Therapien (Komplexe Physikalische Entstauungsbehandlung - KPE, ergänzend Kompressionsbinden und entstauende Bewegungstherapie, manuelle Lymphdrainagen, apparative intermittierende Kompressionsbehandlung - AIK) zur Verfügung.
Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch. Ohne die beantragte Liposuktion drohe ein größerer Pflegebedarf, da die MS ansonsten immense Ausmaße annehmen werde. Auch bestätigten die vorgelegten ärztlichen Atteste eindeutig das Vorliegen eines Ausnahmefalls. Die beantragten Maßnahmen seien in ihrem Falle alternativlos.
Die Beklagten holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 2. August 2018 nach Aktenlage ein. Der MDK kam nach Auswertung der von der Klägerin vorgelegten Unterlagen zu dem Ergebnis, bei der Klägerin bestehe ein Lipödem im Stadium II mit erheblicher Schmerzsymptomatik, MS mit motorischen Beeinträchtigungen und Schmerzsymptomatik bei schubförmigem Verlauf, Adipositas Grad II und Neigung zu Rötungen und entzündlichen Prozessen sowie teilweise Bildung von Nekrosen im Bereich der Einstichstellen der Injektionsbehandlung mit Interferon. Dies habe zusätzlich zu einem umfassenden Schmerzmittelkonsum geführt, der auch Opioide und Opiate umfasse. Entsprechend der Leitlinie werde zur Behandlung des Lymphödems Bewegungstherapie, Kompressionsbehandlung, manuelle Lymphdrainage und Kompressionsbestrumpfung, komplexe Entstauungstherapieverfahren und ggf. eine stationäre Rehabilitation empfohlen. Darüber hinaus sei eine Gewichtsreduktion durchzuführen, um die negativen Risikofaktoren von Übergewicht/Adip...