Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Haarwuchsmittel. Voraussetzungen des Off-Label-Use bei starker psychischer Belastung als indirekte Folge des Haarausfalls. Vorrangigkeit der eindeutigen gesetzlichen Wertung des § 34 Abs 1 S 8 SGB 5
Orientierungssatz
1. Grundsätzlich kommt ein Off-Label-Use nur in Betracht bei der Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung, für die keine andere Therapie verfügbar ist und bei der aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann (vgl BSG - Urteil vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R = SozR 4-2500 § 2 Nr 12). Bei Haarausfall wegen einer Erkrankung an Alopecia areata totalis handelt es sich nicht um eine solche Erkrankung.
2. Besteht bei dem das Haarwuchsmittel begehrenden 31-jährigen Versicherten infolge des Haarausfalls eine starke psychische Belastung, welche nach seinem Vortrag durch ein nicht zur Therapie von Haarausfall zugelassenes Medikament durch Verbesserung des Haarwuchses indirekt gemildert oder geheilt werden könnte, bewirkt dieser Gesichtspunkt keine Einstufung als eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des BSG, da die psychische Belastung nicht die eigentliche hier als behandlungsbedürftig zu betrachtende Erkrankung darstellt, sondern lediglich deren mittelbare Folge ist.
3. Unabhängig hiervon stünde selbst bei einer Einstufung als schwerwiegende Erkrankung unter dem vorgenannten Gesichtspunkt die eindeutige Wertung des § 34 Abs 1 S 8 SGB 5, welcher eine Versorgung mit Mitteln zur Verbesserung des Haarwuchses ausdrücklich ausschließt, einem Anspruch auf Off-Label-Use entgegen.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung sowie die zukünftige Kostenübernahme für das Medikament „Xeljanz“ (Tofacitinib) zum Zwecke der Behandlung von Alopecia areata totalis.
Der 1990 geborene Kläger leidet seit dem Jahr 2014 an Alopecia areata totalis. Der Kläger beantragte am 18. Juli 2018 über die Universitätsmedizin der Universität Mainz die Kostenübernahme für eine Behandlung mit dem Medikament „Xeljanz“ (Tofacitinib). Dieses Medikament ist für die Behandlung von rheumatoider Arthritis und Psoriasis-Arthritis zugelassen.
Dem Antrag war ein Gutachten von Prof. Dr. D. zur gesundheitlichen Situation des Klägers beigefügt. Dieser bescheinigte dem Kläger, dass die bisherigen Behandlungsversuche mit Lokaltherapeutika erfolglos gewesen seien und verwies auf mehrere positive Heilungsberichte von Patienten, die unter Alopecia areata totalis gelitten hatten, nach einer Behandlung mit „Xeljanz“. Er bat die Beklagte um Kostenübernahme für zunächst sechs Monate.
Die Beklagte wandte sich an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), der in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 3. August 2018 zu dem Ergebnis kam, dass eine Kostenübernahme nicht möglich sei. Die Erkrankung des Klägers sei psychisch belastend, nicht akut lebensbedrohlich, nicht singulär. Die Behandlungsempfehlung stütze sich auf eine retrospektive Studie ohne Kontrollgruppe. Eine Zulassungserweiterung könne nicht erwartet werden. Durch die Neuregelungen des § 34 Abs. 1 SGB V ab 1. Januar 2004 mit dem Ausschluss von Arzneimitteln, die überwiegend der Verbesserung des Haarwuchses dienten, sei eine Kostenübernahme nicht möglich.
Mit Bescheid vom 9. August 2018 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für das Medikament „Xeljanz“ unter Bezugnahme auf die Begründung des MDK ab.
Hiergegen erhob der Kläger am 16. August 2018 Widerspruch. Seine Erkrankung sei zwar an sich nicht tödlich, jedoch beeinflusse die Krankheit sein Sozialleben, Berufsleben sowie Studienleben derart negativ, dass sie indirekt zum Tod führen könne. Da die Krankheit sein äußeres Erscheinungsbild immens verändert habe, habe er sich oftmals benachteiligt gefühlt. Die anerkannten Therapien hätten bei ihm nicht geholfen. Auch die von ihm als Selbstzahler in der Türkei durchgeführte Ozontherapie sei nicht erfolgreich gewesen, ebenso alle Naturheilverfahren. Die ebenfalls in der Frankfurter Universitätsklinik durchgeführte Steroidpulstherapie sei ebenso erfolglos gewesen wie auch die DCC-Therapie. Erst die Behandlung mit dem Medikament „Xeljanz“ habe einen gewaltigen Fortschritt gebracht.
Die Beklagte schaltete erneut den MDK ein, der in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 23. August 2018 bei seinem Ergebnis blieb. Es fehlten zulassungsreife Phase III-Studien zu „Xeljanz“ bei Alopecia areate. Es seien nur indiziengestützte Hinweise auf Behandlungserfolge vorhanden. Eine zulassungsreife Datenlage fehle. Ein Therapieerfolg im Einzelfall sei kein maßgebliches Kriterium für die ...