Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. unangemessene Verfahrensdauer. Streit um die Wirksamkeit einer Klagerücknahme. Abhängigkeit der Klage- und Rügefrist für die Entschädigungsklage vom materiellen Verfahrensausgang. Folgeverfahren als eigenständige Gerichtsverfahren. prozessualer Verfahrensbegriff
Leitsatz (amtlich)
Ist eine Klagerücknahme wirksam erklärt, bleibt es auch bei einem Streit um die Wirksamkeit der Erklärung - nach entsprechender Feststellung des Gerichts, gegebenenfalls durch das Berufungs- oder Revisionsgericht - bei der Erledigung des Rechtsstreit durch diese. Für das Entschädigungsklageverfahren hat dies zur Folge, dass sowohl die Frist für die Erhebung der Entschädigungsklage aus § 198 Abs 5 S 2 GVG als auch die Möglichkeit einer wirksamen Verzögerungsrüge nach § 198 Abs 3 S 1 GVG nach einer Rücknahmeerklärung von dem materiellen Ausgang des Streits um deren Wirksamkeit abhängt.
Orientierungssatz
Dem Entschädigungsrecht liegt ein am prozessualen Verfahrensbegriff orientiertes Verständnis zugrunde, sodass sich aus einer Ausgangsklage ergebende Folgeverfahren (hier: anschließender Rechtsstreit über die richtige Umsetzung des Urteils durch einen Ausführungsbescheid oder unbegründete Klage über die Wirksamkeit einer Rücknahmeerklärung) als eigene Verfahren iS des § 198 Abs 6 Nr 1 GVG anzusehen sind, auch wenn sich diese Folgeverfahren auf einen einheitlichen Lebenssachverhalt beziehen.
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger macht einen Entschädigungsanspruch in Höhe von mindestens 21.600,- Euro wegen der nach seiner Auffassung unangemessenen Dauer mehrerer vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main und dem Hessischen Landessozialgericht geführter Verfahren geltend, wobei er davon ausgeht, dass die Verfahren wegen ihres sachlichen Zusammenhangs als einheitlicher, insgesamt überlanger Rechtsstreit zu verstehen seien.
In der Sache ging es in den Ausgangsverfahren zunächst um die Weitergewährung von Arbeitslosenhilfe dem Grunde nach für die Zeit ab dem 9. Dezember 1998 durch die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die Bundesanstalt für Arbeit, später Bundesagentur für Arbeit. Gegen deren diesbezüglichen Bescheid vom 12. März 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. April 1999 erhob der Kläger am 11. Mai 1999 Klage zum Sozialgericht Frankfurt am Main, wo das Verfahren das Aktenzeichen S 19 AL 1739/99 erhielt. Nach durch längere Pausen unterbrochenem Schriftverkehr der Beteiligten des Ausgangsverfahrens bis September 2001 - zum Teil nach Erinnerung durch das Gericht -, Ausreise des Klägers nach Kroatien im Herbst 2001 und Anhörung der Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid am 4. September 2003 wies das Sozialgericht die Klage durch Gerichtsbescheid vom 22. März 2004 ab. Der Kläger legte mit Eingang beim Hessischen Landessozialgericht am 24. Mai 2004 Berufung ein, wo das Verfahren zunächst unter dem Aktenzeichen L 10 AL 115/04, später unter dem Aktenzeichen L 7 AL 115/04 geführt wurde. Nach Ermittlungen des Gerichts zu der zentral streitigen Frage der Verschlossenheit des Arbeitsmarkts hob der für das Ausgangsverfahren zuständige Senat durch Urteil vom 21. August 2009 - beiden Beteiligten zugestellt im September 2009 - den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts sowie die streitigen Bescheide auf und verurteilte die Beklagte des Ausgangsverfahrens, an den Kläger ab dem 9. Dezember 1998 dem Grunde nach Arbeitslosenhilfe zu zahlen.
Diese setzte das Urteil durch acht Bescheide vom 15. Juli 2010 - zu verschiedenen Teilzeiträumen - um und gewährte dem Kläger insgesamt für die Zeit vom 9. Dezember 1998 bis zum 25. September 2001 Arbeitslosenhilfe. Mit Bescheid vom 16. Juli 2010 bewilligte sie zudem Zinsen in Höhe von 2.518,60 Euro. Auf Widerspruch des Klägers gegen die Bescheide erließ sie am 15. September 2010 einen Widerspruchsbescheid zur Höhe der Arbeitslosenhilfe, konkret zu der Frage, ob von der Ehefrau des Klägers bezogenes Arbeitslosengeld auf die Arbeitslosenhilfe anzurechnen sei, am 16. September 2010 einen Widerspruchsbescheid zur Berücksichtigung eines Erstattungsanspruchs des Sozialhilfeträgers und schließlich am 7. Oktober 2010 einen Widerspruchsbescheid zur Verzinsung der Nachzahlung.
Der Kläger erhob daraufhin am 29. November 2010, vertreten durch seine damalige Prozessbevollmächtigte, Klage gegen die Bescheide. Das Verfahren wurde zunächst unter dem Aktenzeichen S 1 AL 520/10, später unter dem Aktenzeichen S 32 AL 520/10 geführt. Nach Schriftverkehr der Beteiligten bis Mai 2011 bewilligte das Sozialgericht durch Beschluss vom 18. Dezember 2013 Prozesskostenhilfe zu Gunsten des Klägers. In der mündlichen Verhandlung vom 11. August 2014 trennte das Sozialgericht durch Beschluss das Verfahren hinsichtlich der Verzinsung ab; insoweit wurde der Rechtsstreit fortan unter dem Aktenzeichen S 32 AL 214/14, später S 19 AL 214/14 geführt und durch Urteil des Sozialger...