Entscheidungsstichwort (Thema)
Verrechnung von Beitragsforderungen mit Rentenzahlungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung während der Wohlverhaltensphase nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens. Ermessensentscheidung. Anfechtungsklage. maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Verrechnung durch Verwaltungsakt. Nachweis der Hilfebedürftigkeit durch den Leistungsberechtigten
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung, die mit einer reinen Anfechtungsklage angefochten wird, ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage immer der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2016, B 14 AS 4/15 R = SozR 4-4200 § 60 Nr. 4).
2. Während der Wohlverhaltensphase nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens ist eine Verrechnung nach §§ 51, 52 SGB I grundsätzlich in den unpfändbaren Teil der Bezüge aus einem Dienstverhältnis oder an deren Stelle tretende laufende Bezüge möglich.
Orientierungssatz
1. Ein Leistungsträger darf die Verrechnung durch Verwaltungsakt regeln (vgl BSG vom 31.8.2011 - GS 2/10 = BSGE 109, 81 = SozR 4-1200 § 52 Nr 4 sowie vom 7.2.2012 - B 13 R 109/11 R ).
2. Der von § 51 Abs 2 SGB 1 geforderte Nachweis der Hilfebedürftigkeit ist durch den Leistungsberechtigten zu erbringen.
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20. September 2021 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Verrechnung der Erwerbsminderungsrente des Klägers mit einer Beitragsforderung der Beigeladenen durch die Beklagte während eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers.
Der 1964 geborene Kläger, der Zeiten in der knappschaftlichen Rentenversicherung zurückgelegt hat, ist bei der Beklagten gesetzlich rentenversichert. Zeitweise war er selbständig tätig und betrieb ein Unternehmen im Bereich Feuerfestbau.
Mit Schreiben vom 19. Dezember 2013 und 28. Januar 2014 ermächtigte die Beigeladene die Beklagte, eine Forderung in Höhe von 1.529,09 € aufgrund geschuldeter Sozialversicherungsbeiträge für die Zeit von Januar 2006 bis Dezember 2007, Säumniszuschläge in Höhe von 1.094,50 € sowie weitere Kosten in Höhe von 85,65 € mit von der Beklagten an den Kläger zu erbringenden Geldleistungen zu verrechnen. Ihre Forderung sei am 16. Juni 2008 rechtskräftig festgestellt worden und nicht verjährt.
Durch Beschluss vom 4. Juli 2014 eröffnete das Amtsgericht Kassel das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers (Az.: 660 IN 57/14). Die Beigeladene meldete ihre Forderung in Höhe von 1.529,09 € aus Sozialversicherungsbeiträgen für den Zeitraum von Januar 2006 bis Dezember 2007, Säumniszuschläge bis 30. Juni 2014 in Höhe von 1.319,50 € und Kosten bis Dezember 2007 in Höhe von 85,65 € zur Insolvenztabelle an. Ausweislich des Schlussberichts des Insolvenzverwalters vom 12. November 2015 stand ein Betrag zur Verteilung an die Gläubiger nicht zur Verfügung. Auf die anerkannte Forderung der Beigeladenen entfielen in der Schlussverteilung 0,00 € (Schlusstermin am 19. Januar 2016). Mit Beschluss vom 19. Januar 2016 stellte das Amtsgericht dem Kläger die Erteilung der Restschuldbefreiung in Aussicht. Mit weiterem Beschluss vom 17. Februar 2016, rechtskräftig am 17. März 2016, hob das Amtsgericht Kassel das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers auf.
Aufgrund seines Antrags vom 21. Mai 2014 gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 1. Dezember 2016 aufgrund eines Leistungsfalls am 9. März 2015 ab 1. Oktober 2015 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (Zahlbetrag ab 1. Januar 2017: 1.013,76 €). Diese Rente wird dem Kläger durchgehend laufend gewährt. Bis 31. Oktober 2016 bezog der Kläger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II), die für den Zeitraum ab 1. Oktober 2015 im Wege eines Erstattungsanspruchs zwischen den Trägern ausgeglichen wurden.
Auf Anfrage der Beklagten teilte die Beigeladene mit Schreiben vom 12. Dezember 2016 hinsichtlich des Verrechnungsersuchens mit, dass die Forderung nur noch bedingt in voller Höhe bestehe. Sie habe die gesamte Forderung zur Insolvenztabelle angemeldet und diese sei festgestellt worden. Die aus rückständigen Gesamtsozialversicherungsbeiträgen aufgrund Arbeitgebertätigkeit (Einzelfirma) resultierende Gesamthöhe der Forderung bezifferte sie auf insgesamt 2.816,48 €. Sofern dem Kläger die Restschuldbefreiung nicht erteilt werde, bestehe die Forderung in voller Höhe fort.
Mit Schreiben vom 16. Januar 2017 hörte die Beklagte den Kläger zu einer beabsichtigten Verrechnung an. Es sei in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens beabsichtigt, dem Verrechnungsersuchen der Beigeladenen nachzukommen und den sich aus dem Verrechnungsersuchen ergebenden Gesamtbetrag von 2.816,48 €, dem ein Anspruch auf Zahlung von Gesamtsozialversicherung...