Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterhaltsverzicht. fiktiver Unterhaltsanspruch
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Unterhaltsverzicht führt nicht zur Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruches, wenn der Verzicht objektiv verständig bzw. anerkennenswert ist (Anschluß an BSG, Urteil vom 24. Mai 1978 – 4 RJ 79/77).
2. Die zum Verzicht führenden Motive und Begleitumstände müssen rückschauend erkennbar und nachvollziehbar sein. Hierfür trägt der Rentenbewerber die Beweislast.
Normenkette
AVG § 68 Abs. 2; RVO § 1291 Abs. 2
Verfahrensgang
SG Kassel (Urteil vom 09.09.1977) |
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. September 1977 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die wiederaufgelebte Witwenrente nach § 68 Abs. 2 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG).
Die im Jahre 1930 geborene Klägerin war in erster Ehe mit dem am … 1923 geborenen und am … 1957 verstorbenen Versicherten H. S. (Versicherter) verheiratet. Bis zu ihrer Wiederverheiratung am 5. Mai 1965 erhielt die Klägerin aus dieser Versicherung Witwenrente.
Die zweite Ehe der Klägerin wurde durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Kassel – 8 (6) R 410/73 – vom 6. März 1974 aus dem Verschulden des Ehemannes geschieden. Im Scheidungsverfahren wurde ein Unterhaltsvergleich dahin geschlossen, daß der Ehemann ab 1. März 1974 auf die Dauer von zwei Jahren einen monatlichen Unterhaltsbetrag von 1.000,– DM netto zu zahlen habe. Für die Folgezeit verzichtete die Klägerin auf jeglichen Unterhaltsanspruch einschließlich des Notbedarfs. Sein Grundvermögen hat der Ehemann seinerzeit mit 400.000,– bis 500.000,– DM, sein laufendes Einkommen als freier Architekt mit monatlich ca. 3.500,– DM angegeben.
Auf den Antrag der Klägerin vom 3. Januar 1975 erkannte die Beklagte durch Bescheid vom 29. Januar 1976 das Wiederaufleben der Witwenrente nach dem Versicherten H. S. dem Grunde nach an. Eine Rentenzahlung wurde aber abgelehnt mit der Begründung, die Klägerin habe einen Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen Ehemann in Höhe von 1.000,– DM monatlich erworben. Dieser Betrag übersteige die Höhe der wiederaufgelebten Witwenrente.
Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 1976 zurückgewiesen mit der Begründung, es sei zutreffend von einem fiktiven Unterhalt von 1.000,– DM monatlich ausgegangen worden. Der Verzicht sei nicht geeignet, einen bestehenden Unterhaltsanspruch zu beseitigen.
Mit ihrer Klage machte die Klägerin geltend, Unterhalt in Höhe von 1.000,– DM monatlich sei nur für die ersten zwei Jahre zu leisten gewesen. Ein (fiktiver) Unterhaltsanspruch für die Folgezeit hätte nicht in dieser Höhe bestehen können.
Es könne ihr nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie durch einen Unterhaltsverzicht eine Versorgungslücke geschaffen habe.
Die Beklagte berief sich demgegenüber auf die Anrechnungsvorschrift des § 80 Abs. 2 AVG, die in dieser Form bereits seit 1. Januar 1957 bestehe und weder durch das Rentenreformgesetz von 1972 noch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berührt worden sei.
Durch Urteil vom 9. September 1977 hat das Sozialgericht Kassel die Klage abgewiesen mit der Begründung, zutreffend habe die Beklagte einen fiktiven Unterhaltsanspruch von 1.000,– DM zugrunde gelegt mit der Folge, daß hierdurch eine Rentenzahlung entfalle.
Gegen dieses der Klägerin am 26. September 1977 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 18. Oktober 1977 beim Sozialgericht Kassel eingegangene Berufung, mit der sie ihren Rentenanspruch weiterverfolgt. Sie trägt vor, ihr geschiedener Ehemann betreibe sein Architekturbüro nicht mehr und beziehe nunmehr eine Rente von monatlich 600,– DM. Ein Unterhaltsanspruch in Höhe von monatlich 1.000,– DM habe ohnehin nur bis 1. März 1976 bestanden. Sie selbst habe z. Zt. ein monatliches Bruttoeinkommen von ca. 1.000,– DM.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. September 1977 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 29. Januar 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 1976 zu verurteilen, ihr Witwenrente aus der Versicherung des am 27. Oktober 1928 geborenen und am 5. März 1957 verstorbenen, Versicherten H. S., in voller Höhe ab 1. März 1976 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und macht geltend, die wirtschaftliche Lage des früheren Ehemannes der Klägerin sei nach Aufgabe seines Architekturbüros nicht bewiesen.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig; sie ist an sich statthaft und in rechter Form und Frist eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz –SGG–).
In der Sache selbst erweist sich jedoch die Berufung als unbegründet.
Das angefoch...