Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewahrsam aus politischen Gründen. Verstoß gegen Wirtschaftsstrafbestimmungen

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Gewahrsam, der in ähnlicher Weise auch nach rechtsstaatlichen Prinzipien hätte erlitten werden müssen, ist unabhängig von seinem Grund nicht politisch im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG (Anschluß an Urteil des BVerwG vom 22. Juni 1977 – VIII C 4.76).

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 5; Häftlingshilfegesetz (HHG) § 1 Abs. 1 Nr. 1

 

Verfahrensgang

SG Wiesbaden (Urteil vom 28.10.1976)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 28. Oktober 1976 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung der Zeit vom 6. April 1951 bis zum 8. Juni 1952 als Ersatzzeit.

Der am 13. August 1909 geborene Kläger ist als Sowjetzonenflüchtling gemäß § 3 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) anerkannt. Am 13. April 1951 wurde er im sowjetisch besetzten Sektor von B. in Haft genommen und im Dezember 1951 angeklagt, als Kraftfahrer der O. Firma O. insgesamt 13 Holz-, Chemikalien- und Kohlentransporte gegen ein Entgelt von 25,– DM für jeden Transport bestimmungswidrig und illegal nach W. überführt zu haben, und zwar mit Hilfe von Warenbegleitscheinen, die von anderen Mitangeklagten gefälscht worden waren; dadurch habe er wertvolles Volksgut der Friedenswirtschaft entzogen und der westlichen Kriegswirtschaft zugeführt, wodurch er sich nach den §§ 1 und 2 der Verordnung über den innerdeutschen Handel vom 23. Dezember 1949 i.V. mit § 4 Abs. 1, 11 der Verordnung zum Schutz des innerdeutschen Handels strafbar gemacht habe. Am 15. Februar 1952 wurde der Kläger von der 1. großen Strafkammer des ehemaligen Landgerichts Berlin zu einer Gefängnisstrafe von 2 Jahren verurteilt wegen Verstoßes gegen die als Transport- und Frachtführer auferlegte Verpflichtung der genauesten Einhaltung der Inhaltsangaben der Warenbegleitscheine. Mit Verfügung vom 21. Mai 1952 wurde die Reststrafe von 316 Tagen mit Wirkung vom 25. Mai 1952 zur Bewährung ausgesetzt.

Am 17. November 1958 übersiedelte der Kläger in die Bundesrepublik. Auf seinen Antrag stellte der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht in Frankfurt am Main durch Bescheid vom 2. Januar 1961 fest, daß die Vollstreckung der durch rechtskräftiges Urteil der 1. großen Strafkammer des sowjetrektoralen Landgerichts Berlin vom 15. Februar 1952 wegen Vergehens gegen die 4. Durchführungsbestimmung der Verordnung über Versandverpflichtung und Warenbegleitscheine vom 14. Oktober 1950 erkannten Strafe von 2 Jahren Gefängnis unzulässig sei.

Die Anträge des Klägers auf Ausstellung einer Bescheinigung gemäß § 10 Abs. 4 des Häftlingshilfegesetzes (HHG) und Gewährung einer Eingliederungsbeihilfe gemäß § 9 a Abs. 1 HHG wurden durch Bescheide des Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 15. März 1962 abgelehnt mit der Begründung, der Kläger gehöre nicht zu den Berechtigten nach § 1 Abs. 1 HHG, da seine Inhaftierung wegen Verstoßes gegen die geltenden Bewirtschaftungsbestimmungen erfolgt sei, nicht aber politische Ursachen gehabt habe.

Mit Bescheid vom 4. Februar 1974 bewilligte die Beklagte dem Kläger Altersruhegeld vom 1. Januar 1974 an. Der Berechnung legte sie Versicherungs- und Ausfallzeiten für den Zeitraum vom 3. September 1923 bis 31. Dezember 1973 zugrunde. Eine Anrechnung der vom Kläger geltend gemachten Inhaftierung vom 6. April 1951 bis 8. Juni 1952 als Ersatzzeit lehnte sie ab mit der Begründung, der Kläger gehöre nicht zum Personenkreis des § 1 HHG.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger keinen Rechtsbehelf ein, sondern beantragte mit Schreiben vom 15. Januar 1976 unter Berufung auf den Bescheid des Generalstaatsanwalts vom 2. Januar 1961, die Zeit vom 6. April 1951 bis 8. Juni 1952 als Ersatzzeit anzurechnen und das Altersruhegeld neu festzustellen.

Durch Bescheid vom 5. Februar 1976 lehnte die Beklagte den Antrag ab unter Hinweis auf die fehlenden Voraussetzungen des § 1 HHG. Ein Widerspruchsverfahren wurde nicht durchgeführt.

Mit seiner Klage vor dem Sozialgericht Wiesbaden machte der Kläger geltend, entgegen den im damaligen Strafverfahren getroffenen Feststellungen von der Illegalität der Warentransporte nichts gewußt und lediglich einmal ein Trinkgeld von 20,– DM angenommen zu haben für seine Mithilfe beim Abladen der Ware.

Durch Urteil vom 28. Oktober 1976 verurteilte das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 4. Februar 1974, die Zeit vom 6. April 1951 bis 8. Juni 1952 als Ersatzzeit anzuerkennen und dem Kläger eine höhere Rente zu gewähren.

Gegen dieses der Beklagten am 27. Dezember 1976 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 3. Januar 1977 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte das Vorverfahren nachgeholt (Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1978).

Die Beklagte hält die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 HHG für...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge