Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen Erwerbsminderung. Begutachtung. fehlende Mitwirkung des Leistungsberechtigten
Orientierungssatz
1. Während die Entscheidung über einen Rentenanspruch wegen Erwerbsminderung nach § 43 Abs 1 und 2 SGB 6 die Prüfung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen und des Restleistungsvermögens des Rentenbewerbers erfordert, kann der Leistungsträger nach § 66 Abs 1 S 1 SGB 1 ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB 1 nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird.
2. Gem § 66 Abs 3 SGB 1 dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 29. April 2019 abgeändert und der Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2017 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Klage wegen der im Wege der Klageerweiterung im Berufungsverfahren geltend gemachten Begehren der Klägerin wird abgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zur Hälfte zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit zwischen den Beteiligten steht ein Bescheid der Beklagten, mit dem diese die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund fehlender Mitwirkung der Klägerin abgelehnt hat.
Die 1963 geborene Klägerin ist ausgebildete Arzthelferin und Kauffrau im Gesundheitswesen. Seit 2010 ist sie arbeitslos bzw. arbeitsunfähig erkrankt. Bis zum 31. Oktober 2016 bezog sie Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II) des Jobcenters Gießen. Das Hessische Amt für Versorgung und Soziales (HAVS) hat mit Bescheid vom 7. August 2014 mit Wirkung vom 11. Dezember 2012 einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 festgestellt.
Die Klägerin führte vom 30. April 2014 bis 11. Juni 2014 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der AHG Klinik Waren, Psychosomatisches Behandlungszentrum an der Müritz, Abteilung Psychosomatik/Psychotherapie, durch. Ausweislich des Entlassungsberichts vom 12. Juni 2014 gingen die behandelnden Ärzte unter Zugrundelegung der Diagnosen
1. Schwere Anpassungsstörung bei anhaltender Belastungssituation,
2. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung,
3. Insertionstendopathie linker Trochanter major,
4. Nacken- und Schultermyalgien,
von einem Leistungsvermögen der Klägerin in ihrer letzten beruflichen Tätigkeit als Kauffrau im Gesundheitswesen als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für mittelschwere Tätigkeiten ohne Zwangshaltungen von sechs Stunden und mehr arbeitstäglich aus.
Die Klägerin beantragte im Rahmen eines Widerspruchs gegen einen eine weitere Rehabilitationsmaßnahme ablehnenden Bescheid der Beklagten am 6. Februar 2015 formlos die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Unter Hinweis auf ihre Mitwirkungspflicht und die gesetzlichen Vorschriften der §§ 60-66 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I), die auf der Rückseite des Schreibens vollständig abgedruckt waren, forderte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 9. Juli 2015 unter Hinweis auf das Erfordernis eines Formantrags zur Überlassung der vollständig ausgefüllten Antragsformulare auf. Nachdem ein Eingang der ausgefüllten Antragsformulare nicht binnen der gesetzten Frist zu verzeichnen war, lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit bindend gewordenem Bescheid vom 13. August 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2015 wegen mangelnder Mitwirkung ab.
Am 11. März 2016 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheides vom 13. August 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2015, hilfsweise stellte sie einen neuen Antrag auf die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Am 11. Mai 2016 ging das ausgefüllte und unterschriebene Antragsformular bei der Beklagten ein, in dem die Klägerin angab, sich seit 2010 insbesondere wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung für erwerbsgemindert zu halten. Nach Beiziehung eines Befundberichts der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. med. C. vom 15. September 2016, dem u.a. der Entlassungsbericht des Krankenhauses Lahnhöhe, Überregionales Zentrum für Psychosomatische Medizin und Ganzheitliche Heilkunde, vom 8. Dezember 2015 beigefügt war, beauftragte die Beklagte mit Schreiben vom 18. Oktober 2016 den Arzt für Psychiatrie Dr. med. D. mit der Erstellung eines medizinischen Gutachtens binnen einer Frist bis zum 19. November 2016. Auf telefonische Anfrage der Beklagten im Januar 2017 teilte die Praxis des Dr. med. D. mit,...