Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. unangemessene Verfahrensdauer. Zeiten des Verfahrensstillstands. Umfang des Entschädigungsanspruchs. GmbH in Liquidation. Genugtuungsfunktion der pauschalierten Entschädigung. entgangener Gewinn. Sowieso-Kosten. Kosten für durchgeführte Gerichtsverfahren. sozialgerichtliche Verfahren in den Instanzen. Verfassungsbeschwerde. Individualbeschwerde vor dem EGMR
Orientierungssatz
1. Die Wiedergutmachungs- oder Genugtuungsfunktion durch die Zahlung der pauschalierten Entschädigung nach § 198 GVG ist nur zu verwirklichen, wenn sie nicht nur die Gesellschaft als Hülle, sondern das gelebte Unternehmen im Sinne einer werbenden Gesellschaft noch erreicht. Dies ist nicht mehr der Fall, wenn die Gesellschaft nur noch den Zweck hat, die Liquidation durchzuführen.
2. Der Anspruch aus § 198 GVG umfasst auch den Ausgleich einer durch die überlange Verfahrensdauer haftungsausfüllend verursachten materiellen Vermögenseinbuße. Da es sich nicht um einen Schadensersatzanspruch handelt, ist indes entgangener Gewinn nicht zu ersetzen.
3. Nicht ersetzt werden auch die sogenannten "Sowieso-Kosten", die ohnehin durch das Betreiben des Rechtsstreits angefallen sind und die sich durch Länge des Rechtsstreits nicht erhöht haben (hier außergerichtliche Kosten und Gerichtskosten für das sozialgerichtliche Verfahren).
4. Es kann an der haftungsausfüllenden Kausalität für einen Anspruch auf Entschädigung in Bezug auf Kosten des bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens fehlen, wenn die erhobene Urteilsverfassungsbeschwerde unzulässig war.
5. Die Entschädigung erfasst die außergerichtlichen Kosten einer vor Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG eingelegten Individualbeschwerde vor dem EGMR, soweit das Verfahren auf die Überlange des Verfahrens gestützt worden ist.
6. Mehrmonatige Phasen des Verfahrensstillstandes nach einer bereits zurückgelegten Verfahrenslaufzeit von mehr als zwei Jahren können im Einzelfall eine unangemessene Dauer des Gerichtsverfahrens begründen, wenn die Sache keine vernachlässigbare Bedeutung für den Kläger hat und auch mit Blick auf die Gesamtbetrachtung der Verfahrensdauer keine Kompensation eingetreten ist.
Nachgehend
Tenor
I. Das beklagte Land wird verurteilt, die Klägerin von den außergerichtlichen Kosten des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Nr. 12550/09) in gesetzlicher Höhe zu einem Anteil von 1/8 freizustellen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin, eine juristische Person in Liquidation, begehrt eine Entschädigung für die Dauer einer krankenversicherungsrechtlichen Leistungserbringerstreitigkeit vor dem Sozialgericht Wiesbaden und dem Hessischen Landessozialgericht.
Die Klägerin betrieb vom 23. November 1998 bis zum 21. Juli 2002 in C./C-Stadt eine Fachklinik für onkologische Akutbehandlungen. Das Regierungspräsidium Darmstadt erteilte ihr am 23. März 1999 eine Gewerbeerlaubnis zum Betrieb einer Privatkrankenanstalt. Sie behandelte seit 1999 in erheblichem Umfang jedoch auch Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Ein Antrag der Klägerin auf Aufnahme in den Krankenhausplan des Landes Hessen wurde letztlich mit Bescheid vom 28. Juni 2002 abgelehnt; die dagegen gerichtete Klage zum Verwaltungsgericht Gießen wurde zurückgenommen. Den Antrag der Klägerin vom 25. Februar 1999 auf Abschluss eines Versorgungsvertrags nach § 109 SGB V zwischen den Verbänden der Krankenkassen in Hessen mit ihr lehnten diese mit Bescheid vom 1. Juni 1999 und Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 1999 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin biete nicht die Gewähr für eine leistungsfähige Krankenhausbehandlung. Ihr Krankenhaus sei für eine bedarfsgerechte Krankenhausbehandlung der Versicherten nicht erforderlich. Die Wirksamkeit der komplementär-onkologischen Therapieverfahren sei nach klinisch-wissenschaftlichen Kriterien nicht belegt.
Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Klägerin wurde mangels Masse abgelehnt (Beschluss des Amtsgerichts Friedberg vom 23. Januar 2002 - x.1). Rechtsmittel hiergegen (Beschluss des Landgerichts Gießen vom 11. November 2002; Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10. April 2003) blieben erfolglos. Ihre Auflösung wurde mit Datum vom 16. Juni 2003 in das Handelsregister eingetragen (Handelsregisterauszug des Amtsgerichts Friedberg Nr. x.2). Die Klägerin befindet sich seitdem im Stadium der Liquidation.
Die gegen die Ablehnung des Abschlusses eines Versorgungsvertrages gerichtete Klage ging am 11. November 1999 bei dem Sozialgericht Wiesbaden (SG) ein. Die Verwaltungsvorgänge der dortigen Beklagten lagen dem Sozialgericht am 23. Dezember 1999 vor. Mit Beschluss vom 25. April 2000 wurde das beklagte Land beigeladen. Zunächst erfolgte Schriftwechsel zur Frage der Vollständigkeit der Verwaltungsvorgänge...