Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes. Nichtigkeit. fehlendes Rücknahmedatum. Heilung. Wirkung in die Vergangenheit. Zeitpunkt der Kenntnis bzw grob fahrlässigen Unkenntnis. Vertrauensschutz bei Verwaltungsfehlern
Orientierungssatz
1. Ein Bescheid, der eine Leistungsbewilligung zurücknimmt, ohne dass erkennbar wird, ab wann diese Rechtsfolge eintreten soll, macht den Bescheid für die Betroffenen in wesentlicher Hinsicht unvollständig und hat gemäß § 40 Abs 1 SGB 10 dessen Nichtigkeit zur Folge.
2. Ein nichtiger Verwaltungsakt ist einer nachträglichen Heilung nicht zugänglich.
3. In die Vergangenheit wirkt ein Verwaltungsakt stets dann, wenn seine Rechtswirkungen auf Tage vor seiner Bekanntgabe zielen.
4. Für die Kenntnis bzw grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes iS von § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 ist der Zeitpunkt des Erlasses des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes maßgebend; unerheblich ist insbesondere, ob die Behörde den Begünstigten durch späteren Hinweis (zB im Rahmen des Anhörungsverfahrens) von der Rechtswidrigkeit in Kenntnis gesetzt hat (vgl BSG vom 4.2.1998 - B 9 V 24/96 R = SozR 3-1300 § 45 Nr 39).
5. Der Ansicht, dass durch grobe Fehler der Verwaltung bei Erlass des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes das Vertrauen des Begünstigten in die Bestandskraft der Leistungsbewilligung nachhaltig gestärkt wird (BSG vom 5.11.1997 - 9 RV 20/96 = BSGE 81, 156), kann der Senat nicht folgen. Für den in die Zukunft gerichteten Vertrauensschutz des rechtswidrig Begünstigten ist nicht zu erkennen, weshalb dieser davon abhängen soll, dass die Behörde bei ihrer früheren Bewilligungsentscheidung mehr oder weniger schwerwiegende Rechtsfehler beging.
6. Bei der Ermessensentscheidung braucht die Bundesanstalt für Arbeit nicht zu berücksichtigen, dass sie einen erheblichen Vermögensvorteil (iS ersparter Aufwendungen) erlangt hat, weil der rechtswidrig Begünstige wegen seiner verspäteten Arbeitslosmeldung die Anwartschaft auf Arbeitslosengeld nicht erfüllt hat.
Verfahrensgang
SG Darmstadt (Urteil vom 08.10.1996; Aktenzeichen S 15/Ar 2314/95) |
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 8. Oktober 1996 hinsichtlich des Bescheides vom 22. August 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 1995 dahingehend abgeändert, dass dieser Bescheid nur insoweit aufgehoben wird, als er die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 7. August 1995 bis zum 30. Oktober 1995 zurückgenommen hat. Insoweit wird die Klage abgewiesen. Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin ein Viertel ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld.
Die ... 1942 geborene Klägerin war seit Dezember 1981 bei der Stadt D als Altenpflegehelferin beschäftigt. Infolge dauernder Arbeitsunfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit bezog sie vom 22. Juli 1991 bis zum 11. Juli 1992 Krankengeld von der AOK in D. Ihr im Juni 1991 gestellter Antrag auf Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit wurde durch die LVA Niederbayern-Oberpfalz mit Bescheid vom 19. Oktober 1992 abgelehnt. Widerspruch und Klage blieben erfolglos; das Sozialgericht Darmstadt stellte mit Urteil vom 27. Januar 1995 (S-1/J-62/93) fest, die Klägerin sei unter Beachtung bestimmter Funktionseinschränkungen noch in der Lage, eine leichte körperliche Arbeit vollschichtig zu verrichten, womit sie weder berufs- noch erwerbsunfähig sei.
Noch am selben Tag schloss die Klägerin mit der Stadt D einen Aufhebungsvertrag, wodurch ihr Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 28. Februar 1995 gegen Zahlung einer Abfindung von 15.000,-- DM beendet wurde. Am 2. März 1995 meldete sich die Klägerin beim Arbeitsamt D arbeitslos, worauf ihr die Beklagte -- nach Ablauf eines bis zum 17. April 1995 laufenden Ruhenszeitraums aufgrund der durch den Arbeitgeber gezahlten Abfindung -- mit Bescheid vom 8. Juni 1995 Arbeitslosengeld ab dem 18. April 1995 für die Dauer von 676 Tagen in Höhe von 343,80 DM wöchentlich bewilligte; dabei wurde die Leistung in der Höhe vorläufig festgesetzt.
Nach vorheriger Anhörung der Klägerin (Schreiben vom 6. Juli 1995) nahm die Beklagte mit Bescheid vom 21. Juli 1995 ihren Bescheid über die Bewilligung von Arbeitslosengeld zurück, weil die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld von Anfang an nicht vorgelegen hätten. Innerhalb der Rahmenfrist von drei Jahren vor der Arbeitslosmeldung habe die Klägerin nicht mindestens 360 Kalendertage in einer beitragspflichtigen Beschäftigung gestanden; damit sei die Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Die ungerechtfertigte Leistungsbewilligung beruhe auf einem Fehler des Arbeitsamtes, so dass von einer Erstattung der zu Unrecht gewährten Leistu...