Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgeld. behinderungsbedingter Mehrbedarf. Anspruchsentstehung. Zeitpunkt der festgestellten Schwerbehinderung einschließlich des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen G. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
Der Anspruch eines voll erwerbsgeminderten Sozialgeldbeziehers auf Mehrbedarf in Höhe von 17 vH der Regelleistung entsteht mit dem Zeitpunkt der vom zuständigen Versorgungsamt festgestellten Schwerbehinderung einschließlich des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen G und nicht erst mit Aushändigung des Schwerbehindertenausweises (entgegen LSG Stuttgart vom 20.11.2008 - L 7 SO 3246/08 = SAR 2009, 26 und LSG Celle-Bremen vom 25.2.2010 - L 8 SO 219/07).
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 7. Dezember 2009 - S 29 AS 6/08 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob sich die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Rahmen des Anspruchs auf Sozialgeld bei nichterwerbsfähigen Personen, die Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G sind, ab dem Gültigkeitsdatum oder dem Ausstellungsdatum des Ausweises um einen Mehrbedarf von 17 v. H. erhöhen.
Der Kläger bezieht zusammen mit seiner Ehefrau und zwei seiner drei Töchter, mit denen er eine Bedarfsgemeinschaft bildet, seit 1. Januar 2005 durchgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch (SGB II).
Am 4. Dezember 2006 stellte der Kläger bei dem Hessischen Amt für Versorgung und Soziales in ZP. einen Antrag auf Feststellung des Vorliegens einer Behinderung. Dieses erkannte mit Bescheid vom 18. Mai 2007 einen Grad der Behinderung von 60 an und stellte das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G fest. Weiter heißt es dort: “Diese Feststellung trifft zu ab 04.12.2006„. Der Kläger teilte dies ausweislich eines entsprechenden Aktenvermerks der Beklagten am 24. Mai 2007 mit. Der Schwerbehindertenausweis wurde vom Versorgungsamt in ZP. am 12. Juni 2007 ausgestellt und ist gültig ab 4. Dezember 2006.
Mit Bescheid vom 4. September 2007 bewilligte die Beklagte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und anerkannte dabei einen Mehrbedarf wegen Behinderung in Höhe von 17 v. H. der Regelleistung ab dem 12. Juni 2007, dem Ausstellungsdatum des Schwerbehindertenausweises.
Hiergegen legte der Kläger am 27. September 2007 Widerspruch ein und forderte eine Berücksichtigung des Mehrbedarfs bereits ab der Zuerkennung des Merkzeichens G zum 4. Dezember 2006. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29. November 2007 zurück mit der Begründung, maßgeblich für den Zeitpunkt der Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II sei der Zeitpunkt des “Innehabens„ und damit der des Besitzes des Schwerbehindertenausweises, nicht hingegen dessen Gültigkeit.
Hiergegen hat der Kläger am 2. Januar 2008 Klage bei dem Sozialgericht Gießen mit der Begründung erhoben, er habe Anfang Dezember 2006 telefonisch der Beklagten mitgeteilt, dass er einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter gestellt habe, was als formlose Antragstellung im Sinne von § 37 SGB II zu werten sei. Die Gewährung des Mehrbedarfs habe ab dem Zeitpunkt zu erfolgen, zu dem die Schwerbehinderung anerkannt worden sei, also dem 4. Dezember 2006. Diesem Begehren ist die Beklagte in erster Instanz mit der Begründung entgegengetreten, zwingende Voraussetzung der Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II sei nach dem Wortlaut der Vorschrift die Inhaberschaft eines Schwerbehindertenausweises, also dessen tatsächliches Innehaben. Maßgeblich für den Beginn der Gewährung eines Mehrbedarfs sei daher nicht der Zeitpunkt der Antragstellung durch den Leistungsempfänger oder der Zeitpunkt der Gültigkeit des Ausweises, sondern der Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde dem Leistungsempfänger den Ausweis zur Verfügung stelle. Dies sei der 12. Juni 2007 gewesen.
Das Sozialgericht Gießen hat mit Urteil vom 7. Dezember 2009 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. September 2007 verpflichtet, dem Kläger einen Mehrbedarf für nichterwerbsfähige Personen nach § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II ab dem 4. Dezember 2006 zu gewähren und hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei bereits seit dem 4. Dezember 2006 Inhaber eines Schwerbehindertenausweises gewesen und habe daher seit diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen gehabt. Sowohl der Wortlaut des § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II (“Inhaber eines Ausweises„) wie die Formulierung der Gesetzesbegründung (“einen Schwerbehindertenausweis ..... besitzen„) ließen keine eindeutigen Schlussfolgerungen hinsichtlich des Zeitpunkts des Beginns des Mehrbedarfsanspruchs zu. Gleiche...