Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen einer Kraftfahrzeughilfe aus Mitteln der Sozialhilfe. Angemessenheit des Umfangs der Hilfe zur Beschaffung eines Kfz als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
Leitsatz (redaktionell)
1. Es besteht kein Anspruch auf Sozialhilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeugs, wenn der Hilfeempfänger auch so am Leben in der Gemeinschaft in ausreichendem Maß teilnehmen kann.
2. Die Ermöglichung des Besuchs von Ärzten oder Therapeuten und von Einkäufen ist nicht Aufgabe des Trägers der Sozialhilfe, sondern des Krankenversicherungsträgers.
3. Auch für den unmittelbaren Umkreis der Wohnung des Versicherten ist die Mobilität für gesundheitserhaltende Wege, Versorgungswege sowie elementare Freizeitwege durch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sicherzustellen.
4. Bei der Bestimmung des durch Sozialhilfe sicherzustellenden soziokulturellen Existenzminimums muss auf die Lebensgewohnheiten abgestellt werden, die von der in bescheidenen Verhältnissen lebenden Bevölkerung geteilt werden.
Normenkette
SGB XII § 53 Abs. 1 S. 1, § 54 Abs. 1 S. 1, §§ 61, 27a Abs. 4 S. 1; EinglHV § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 2 Nr. 11; SGB IX § 2 Abs. 1 S. 1, § 5 Nr. 1, § 6 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 2 Nr. 7, § 58; SGB V § 33 Abs. 1 S. 1
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 16. Juni 2011 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Bewilligung von Kraftfahrzeughilfe.
Die 1950 geborene Klägerin lebt in A-Stadt bei OM. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 und das Vorliegen der Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche “G„, “aG„ und “B„ festgestellt. Sie bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von rund 225,00 Euro. Ihr Ehemann verfügt über monatliche Renteneinkünfte in Höhe von rund 910,00 Euro; weitere Einkünfte sind nicht vorhanden.
Nachdem ihr altes Kfz im August 2008 einen Totalschaden erlitten hatte, beantragte die Klägerin am 16. September 2008 bei dem Beklagten die Gewährung von Kraftfahrzeughilfe. Sie legte zwei Gebrauchtwagenangebote und einen Kostenvoranschlag der QW. vom 19. September 2008 über den rollstuhlgerechten Umbau eines Kfz (Kofferraumlifter/Heckladehilfe) für rund 2.173,00 Euro vor. Sie gab an, das Kfz u. a. für Fahrten zur Kirche, zum Friedhof, zur Massagepraxis, zum Schwimmbad, zum Einkauf, für Arztbesuche, zu Veranstaltungen der AWO, zu den in OK. lebenden Eltern und für den Besuch einer in XY. wohnenden Freundin zu benötigen. Ergänzend legte sie Kontoauszüge ihres Girokontos vor, aus denen sich zum 5. September 2008 ein Guthabensaldo von rund 576,00 Euro ergab, und versicherte, über kein sonstiges Vermögen zu verfügen.
Der Beklagte veranlasste eine amtsärztliche Begutachtung durch die Ärztin WE., die in ihrem Gutachten vom 8. Dezember 2008 zu dem Ergebnis kam, die Kläger sei behinderungsbedingt in ihrer Mobilität beeinträchtigt. Das beantragte Kfz und der behinderungsbedingte Umbau seien zwar wünschenswert, aber nicht dringend erforderlich.
Mit Bescheid vom 12. Dezember 2008 lehnte der Beklagte den Antrag auf Bewilligung von Kfz-Hilfen ab. Kfz-Hilfen als Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen könnten nur geleistet werden, wenn der behinderte Mensch wegen Art und Schwere der Behinderung insbesondere zur Teilhabe am Arbeitsleben oder aus vergleichbar gewichtigen Gründen auf die regelmäßige Benutzung eines Kfz angewiesen sei oder sein werde. Vergleichbar gewichtige Gründe lägen nur vor, wenn die Notwendigkeit der Benutzung nicht nur vereinzelt und gelegentlich sondern ständig (wie bei Erwerbsfähigen) bestehe. Für Fahrten, die in Zusammenhang mit Leistungen der Krankenkasse notwendig seien, sei der Krankenversicherungsträger zuständig. Die ansonsten gewünschten Fahrten zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft würden durch den Behindertenfahrdienst des Landkreises sichergestellt. Den Widerspruch der Klägerin vom 16. Dezember 2008 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. April 2009 zurück.
Die Klägerin hat am 8. Mai 2009 Klage zum Sozialgericht Marburg erhoben. Sie hat unter Hinweis auf ein von ihr gefertigtes Fahrtenbuch vorgetragen, sie benötige nahezu jeden Tag ein Kfz für notwendige Arztbesuche, Besuche von Freunden und Verwandten, Gottesdienstbesuche, Fahrten zur Betreuung des Enkelkindes, zu Veranstaltungen der AWO und der Trachtengruppen ER. Bei den Arzt- und Therapeutenbesuchen handele es sich zumeist um kurzfristig anberaumte Termine, denen naturgemäß keine Genehmigung der Krankenkasse vorangehe, weshalb diese dann auch keine Fahrtkosten erstatte. Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel scheide in der Regel aus, weil diese nicht rollstuhlgerecht seien. Ein Verweis auf den Behindertenfahrdienst sei unzumutbar. Sie leide an immer wieder auftretenden schmerzhaften Beschwerden und Infektionen im Bereich des linken Beines sowie Hyper- und Hypogl...