Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen eines Anspruchs auf Rente wegen voller Erwerbsminderung

 

Orientierungssatz

1. Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung hat nach § 43 Abs. 3 SGB 6 nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch sechs Stunden täglich erwerbsfähig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

2. Bei der Frage nach dem Bestehen realer Erwerbsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bedarf es nur dann einer besonders eingehenden Prüfung, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine spezifische Leistungsbehinderung festgestellt ist oder wenn der Rentenbewerber wegen eines besonders gearteten Berufslebens deutlich aus dem Kreis vergleichbarer Versicherter herausfällt.

3. Der Ausnahmefall einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes kann sich daraus ergeben, dass die Wegefähigkeit des Versicherten eingeschränkt ist oder die Notwendigkeit besteht, betriebsunübliche Pausen einzuhalten.

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 22. Januar 2016 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1961 geborene Kläger ist gelernter Maler und Lackierer, der nach dreijähriger Ausbildung (1. September 1977 bis 31. August 1980) in seinem erlernten Beruf bis zum 31. August 2008 erwerbstätig war. Seitdem ist der Kläger arbeitslos.

Nachdem die Beklagte seinen ersten Rentenantrag vom 24. April 2009 auf der Grundlage eines Rentengutachtens der Sozialmedizinerin Dr. med. C. vom 28. Mai 2009 abgelehnt und seinen hiergegen erhobenen Widerspruch zurückgewiesen hatte (Bescheid vom 3. Juni 2009; Widerspruchsbescheid vom 9. Oktober 2009), erhob der Kläger am 16. Oktober 2009 Klage vor dem Sozialgericht Kassel (Az. S 5 R 452/09), das zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts von Amts wegen Beweis erhob durch Einholung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens von Dr. med. D. vom 6. August 2010 und eines nervenärztlichen Sachverständigengutachtens von Dr. med. E. vom 4. August 2011, die beide übereinstimmend ein zeitlich uneingeschränktes Leistungsvermögen bejahten. In der mündlichen Verhandlung am 30. August 2012 nahm der Kläger seine Klage zurück und stellte gleichzeitig zur Niederschrift des Gerichts erneut einen Rentenantrag, zu dessen Begründung er nachfolgend Gesundheitsstörungen an der Wirbelsäule sowie in den Knie- und Sprunggelenken geltend machte.

Daraufhin veranlasste die Beklagte eine ambulante Untersuchung des Klägers am 15. Februar 2013 durch ihren Sozialmediziner F., der in seinem Rentengutachten vom 19. Februar 2013 folgende Diagnosen stellte:

- deutliche Hinweise für die Entwicklung einer somatoformen Schmerzstörung mit Überlagerung,

- 11/2012 neu festgestellte rheumatoide Arthritis,

- Funktionsminderung der Halswirbelsäule bei nachgewiesenen degenerativen und Bandscheibenveränderungen ohne erkennbare Radikulopathie,

- Funktionsminderung der Lendenwirbelsäule bei nachgewiesenen erheblichen degenerativen Veränderungen sowie Bandscheibenschädigungen,

- Übergewicht,

- Amblyopie links,

- Senk-Spreizfüße.

Damit könne der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leichte körperliche Arbeiten in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden und mehr mit Einschränkungen entsprechend der beiden Sachverständigengutachten von Dr. med. D. und Dr. med. E. sowie zusätzlich ohne vermehrte Nässe- und Kältezufuhr verrichten.

Darauf gestützt lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 27. Februar 2013 ab und wies den hiergegen von ihm mit einer Bescheinigung des Facharztes für Orthopädie Dr. med. G. vom 30. April 2013 begründeten Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 20. Juni 2013 zurück.

Zur Begründung seiner am 1. Juli 2013 vor dem Sozialgericht Kassel erhobenen Klage legte der Kläger eine Vielzahl ärztlicher Unterlagen vor und zählte diverse Krankheiten auf, aufgrund derer er sich nicht mehr in der Lage sehe, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Tätigkeiten von wirtschaftlichem Wert zu erbringen.

Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts zog das Sozialgericht zunächst Befundberichte bei der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. med. H. vom 29. November 2013, bei Dr. med. G. vom 5. Dezember 2013 und bei dem Facharzt für Psychiatrie I. vom 17. Dezember 2013 bei.

Sodann erhob das Sozialgericht auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens bei Prof. Dr. med. J. - Arzt für Orthopädie und Chirurgie - vom 20. Juni 2014, der im Anschluss an eine ambulante Untersuchung am 16. Juni 2014 bei dem Kläger folgende Diagnosen stellte:

1. Seropositive rheumatoide Arthritis.

2. Chronisch-rezidivierendes Zervikobrachialsyndrom.

3. Chronisch-rezidivierendes Lumbalsyndrom.

4. Bewegungseinschränkung rechtes Kniegelenk bei Kniegelenksarthrose.

5. Zu...

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