Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Auslegung des Berufungsbegehrens. Verletztenrente. Höhe. Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes nach § 90 Abs 1 SGB 7 bzw § 573 Abs 1 RVO. Beschwer. Hauptantrag nach § 48 SGB 10 sowie Hilfsantrag nach § 44 SGB 10. Klageänderung im Berufungsverfahren. stillschweigende Einwilligung in Klageänderung. Entbehrlichkeit des Vorverfahrens. Förmelei. gerichtlicher Vergleich

 

Leitsatz (amtlich)

1. Verfolgt ein Kläger in der ersten Instanz ausschließlich einen Anspruch nach § 44 SGB 10 und entscheidet das Sozialgericht auch nur hierüber, ist die Berufung wegen fehlender Beschwer unzulässig, wenn der Kläger nunmehr ausschließlich einen Anspruch nach § 48 SGB 10 geltend macht.

2. Das Nachholen des Vorverfahrens in der Berufungsinstanz ist in der Regel bloße Förmelei und damit entbehrlich, wenn seit Einlegung des Widerspruchs etwa 13 Jahre vergangen sind, der Kläger offenbar kein Interesse am Erlass des Widerspruchsbescheides hat, die Beteiligten ihren Standpunkt hinreichend ausgetauscht haben und nicht hiervon abrücken.

3. Ein gerichtlicher Vergleich steht einer Anwendung des § 44 SGB 10 prinzipiell entgegen, wenn die Beteiligten mit dessen Abschluss eine endgültige Regelung treffen und eine erneute Überprüfung ausschließen wollten. Für einen solchen Willen spricht auch ein der Entscheidung zugrunde liegender unklarer und komplexer Sachverhalt (hier: Beurteilung des voraussichtlichen Ausbildungsabschlusses und -endes im Rahmen der Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes nach § 90 Abs 1 SGB 7 bzw § 573 Abs 1 RVO).

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 6. Mai 2002 wird zurückgewiesen. Die in der Berufung erweitere Klage wird abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt eine Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes als Grundlage für die Berechnung seiner Rente nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der im Jahre 1954 geborene Kläger erlitt am 2. April 1965 während des Zeitungsaustragens einen Unfall mit einer schweren offenen Schädel-Hirn-Verletzung. Zur dieser Zeit war er Schüler an einer Volksschule. Aufgrund dieses Arbeitsunfalls wird dem Kläger seitdem Verletztenrente gewährt, die zunächst nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 v.H. berechnet wurde. Im Jahre 1967 beendete der Kläger die Volksschule nach dem 8. Schuljahr. Von 1967 bis 1970 absolvierte er unter Wiederholung der 9. Klasse die kaufmännische Berufsfachschule. Ab dem Jahr 1970 besuchte er das Wirtschaftsgymnasium in F und wechselte 1972 zum Wirtschaftsgymnasium in G, wo er 1974 - nach Wiederholung der 12. Klasse - die Hochschulreife erlangte. Im Jahre 1975 begann er ein Lehramtsstudium. Mit Bescheid vom 9. Januar 1976 setzte die Berufsgenossenschaft Druck und Papierverarbeitung den Jahresarbeitsverdienst auf den Ortslohn eines Versicherten (Zeitungsträgers) ab Vollendung des 21. Lebensjahres fest. Im Jahre 1979 unterbrach der Kläger sein Lehramtsstudium anlässlich eines Doktorandenstudiums in den USA, setzte es 1980 fort und wurde auf seinen Antrag hin 1982 exmatrikuliert, wobei er als Gründe “Krankheit und Finanznot„ angab. Im Jahre 1984 begann er ein Studium der Rechtswissenschaft, welches er im selben Jahr abbrach.

Am 14. Mai 1984 beantragte der Kläger die Neufeststellung seines Jahresarbeitsverdienstes nach § 573 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO). Zur Begründung führte er an, dass er ohne den Unfall Realschule und Wirtschaftsgymnasium früher abgeschlossen hätte und sein Studium mit erstem Examen sowie nach dem Referendariat sein zweites Examen absolviert hätte, sodass er zum 1. August 1979 als Studienrat eingestellt worden wäre.

Mit Bescheid vom 14. September 1984 lehnte die Berufsgenossenschaft Druck und Papierverarbeitung eine Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes ab. Zur Begründung führte sie aus, der Jahresarbeitsverdienst sei zuletzt mit Bescheid vom 9. Januar 1976 gemäß § 573 Abs. 2 RVO auf den Ortslohn für Versicherte über 21 Jahre neu festgesetzt worden. Eine Erhöhung des Jahresarbeitsverdienstes nach § 573 Abs. 1 RVO komme nicht in Betracht, da eine Bestimmung des Zeitpunktes der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung gegenwärtig nicht möglich sei.

Hiergegen erhob der Kläger am 10. Oktober 1984 Klage beim Sozialgericht Frankfurt am Main (S 4 U 260/84). In der mündlichen Verhandlung vom 19. August 1987 schlossen die Beteiligten einen Vergleich mit folgendem Wortlaut:

“ Der Vertreter der Beklagten erklärt: Der Bescheid vom 14.09.1984 wird aufgehoben. Die Beklagte wird bei der Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes des Klägers ab 01.12.1982 von dem zu diesem Zeitpunkt festgesetzten Gehalt eines Studienassessors im Hessischen Landesdienst ausgehen und dem Kläger einen entsprechenden Bescheid erteilen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers erklärt mit dessen Einverständnis: Ich bin einverstanden. Wei...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge