Leitsatz (amtlich)
Gerät ein Betriebsratsvorsitzender durch ein äußeres, psychisches, betriebsbedingtes Ereignis in einen Zustand der wesentlichen Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Willensbildung und begeht er deshalb Suizid, so liegen die Voraussetzungen für einen Arbeitsunfall vor.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerinnen werden das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 8. Februar 1974 sowie der Bescheid vom 6. Juli 1972 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Klägerinnen die Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte hat den Klägerinnen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerinnen sind die Ehefrau sowie minderjährigen und inzwischen handlungsfähigen Kinder des 1972 nach Suicid verstorbenen R. A. (A.). Mit der Beklagten streiten sie um die Gewährung der Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der im Jahre 1934 geborene A. war bei der F. Druckerei GmbH in F. seit etwa 15 Jahren als Setzer tätig sowie in den letzten 5 Jahren Mitglied des Betriebsrates und am 5. Mai 1972 zu dessen Vorsitzenden gewählt worden. Am 19. Mai 1972 zeigte die F. Druckerei GmbH der Beklagten förmlich an, daß sich A. am Vortage zwischen 13.30 und 13.45 Uhr im Betriebsratszimmer erstochen habe. Prof. Dr. G. (Institut für Rechtsmedizin der Universität F.) bestätigte, daß der Tod durch Verblutung nach einem Scherenstich eingetreten sei. Die Beklagte holte den Bericht der Psychologen W. und B. (F.) vom 6. Juni 1972 über ein Gespräch mit A. am Vorabend seines Todes ein. Danach hatte A. unter anderem angegeben, daß ihn das Amt des Betriebsratsvorsitzenden nervlich belaste und er sich im Gegensatz zu seinen früher souverän gemeisterten beruflichen Aufgaben jetzt wie gelähmt fühle. Diese Psychologen nahmen eine reaktive depressive Verstimmung mit affektiver Labilisierung an. Außerdem teilten sie mit, daß bei A. im Verlaufe des Gesprächs eine zunehmende innere Beruhigung mit deutlicher Lösung der eingangs bestandenen labilen psychischen Verfassung eingetreten sei. Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Suicid geplant gewesen sei. Er könne nur als Kurzschlußreaktion einer labilen Persönlichkeit verstanden werden. Ferner zog die Beklagte die Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt am Main (70 Js 320/72) bei. Nach den in dem dortigen Ermittlungsverfahren gemachten Angaben des ebenfalls zum Betriebsrat gehörenden A. war A. mit dem büromäßigen Arbeitsanfall bzw. dem “Papierwust” als Betriebsratsvorsitzender nicht fertig geworden. Außerdem gab es wegen eines Beschlusses des Betriebsrates vom 16. Mai 1972 Meinungsverschiedenheiten.
Hierauf lehnte die Beklagte ohne weitere Sachaufklärung mit dem an die Klägerin zu 1) zugleich als gesetzliche Vertreterin der Klägerinnen zu 2) und 3) gerichteten Bescheid vom 6. Juni 1972 die Gewährung der Hinterbliebenenentschädigung ab, da es sich bei dem Suicid des A. nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt habe; wesentliche Ursache hierfür sei dessen psychische Labilität, die zu einer Depression geführt habe, gewesen.
Gegen diesen am 7. Juli 1972 mittels eingeschriebenen Briefes an sie abgesandten Bescheid haben die Klägerinnen bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main - SG - am 25. Juli 1972 Klage erhoben. Das SG hat zunächst das Verzeichnis der AOK F. über Vorerkrankungen des A. beigezogen und als Zeugen den früheren Gewerkschaftssekretär H. die damaligen Betriebsratsmitglieder S. und A., die Sekretärin des Betriebsrates E. und den Gewerkschaftssekretär T. als Zeugen sowie die Klägerin zu 1) persönlich gehört. Danach wurden im Betriebsrat - insbesondere am Todestag des A. - u.a. zwischen ihm und A. erhebliche Meinungsverschiedenheiten ausgetragen. Auf diese Bekundungen und Angaben wird Bezug genommen. Sodann hat das SG das nervenfachärztliche Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. (F.) vom 1. November 1973 eingeholt, das von ihm am 8. Februar 1974 erläutert worden ist. Danach führte eine schwere reaktive depressive Verstimmung zum Suicid des A. Deren Ursachen seien einerseits die persönliche Eigenart und ein bestimmter Grad an “Unvermögen” des A. sowie andererseits massive Auseinandersetzungen im Betriebsrat und persönliche Angriffe des A. gegen A. am Todestag gewesen, die nach einer vorübergehenden Beruhigung der Depression am Vorabend diese wieder verstärkt und massiv in Erscheinung hatten treten lassen. Ihnen komme daher die überwiegende Bedeutung zu; zumindest seien sie aber als gleichwertige Bedingung für die zum Tode führende Depression anzusehen. Nachdem die Beklagte zwei gutachtliche Stellungnahmen des Prof. Dr. G. (Neuropsychiatrische Universitätsklinik M.) vom 12. Dezember 1973 und 15. Januar 1974, in denen die Ereignisse am 18. Mai 1972 nur als unbedeutende Gelegenheitsursache berechnet worden sind, vorgelegt hatte, hat das SG mit Urteil vom 8. Februar 1974 die Klage abgewiesen. Es sei nicht erweislich, daß die...