Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Nichtanwendung bei Fehlen eines materiellen Aufenthaltsrechts. Arbeitslosengeld II. Erwerbsfähigkeit. Arbeitsgenehmigung. Gewöhnlicher Aufenthalt. Hilfebedürftigkeit. Selbständige Erwerbstätigkeit. Geschäftliche Niederlassung. Beschäftigung. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Schwangerschaft. Erst-Recht-Schluss. Diskriminierungsverbot
Leitsatz (amtlich)
1. Auf Unionsbürger mit einem vermutet legalen Aufenthalt ohne materielles Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche findet der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 keine Anwendung (Anschluss an LSG Berlin-Potsdam vom 25.3.2013 - L 31 AS 362/13 B ER, LSG Essen vom 10.10.2013 - L 19 AS 129/13 und LSG Halle vom 1.11.2013 - L 2 AS 841/13 B ER).
2. Die Systematik des FreizügG/EU und Art 24 EGRL 2004/38 stehen auch einer entsprechenden Anwendung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 oder einer Anwendung im Wege des "erst recht"-Schlusses auf Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten entgegen, deren Aufenthaltsrecht vermutet wird, weil die zuständige Ausländerbehörde noch keine Feststellung über den Wegfall der materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Aufenthaltsrechts getroffen hat.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 2, § 8 Abs. 2; SGB I § 30 Abs. 3 S. 2; FreizügG/EU §§ 2, 4, 5 Abs. 4; GG Art. 6; RL (EG) 2004/38 Art. 24, 7, 14; AEUV Art. 18, 21
Nachgehend
Tatbestand
Die 1989 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten für den Zeitraum vom 1. August 2011 bis 11. Oktober 2011 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II).
Sie ist bulgarische Staatsangehörige und reiste nach eigenen Angaben Anfang Oktober 2010 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Zusammen mit ihrem damaligen Lebensgefährten und ihrer Mutter mietete sie eine Wohnung in B-Stadt an. Seit 6. Juli 2011 ist sie nach ihren eigenen Angaben von ihrem Lebensgefährten getrennt; er wohne auch nicht mehr in ihrer Wohnung.
Bereits am 1. Juni 2011 meldete die Klägerin ein Gewerbe als “Gebäudereinigung; Lagerarbeiten" an. Als Betriebsstätte und Hauptniederlassung gab sie ihre Wohnanschrift an. Sie habe im Juni auf Vermittlung ihres damaligen Freundes für den Kunden C. GmbH, C-Straße, C-Stadt, in D-Stadt gearbeitet und 1.200,-- bis 1.300,-- € über ihren Freund in bar erhalten. Die Klägerin hat zur Akte SG Wiesbaden S 11 AS 749/11 ER eine an die Fa. C. GmbH gerichtete Rechnung über “Fahrer Tätigkeit„ vom 7. Juni 20011 bis 30. Juni 2011 i.H.v. 1.517,25 € incl. MwSt. gereicht. Hinsichtlich des Unternehmens C. GmbH wird auf den Handelsregisterauszug auf Bl. 59 ff. in der Akte SG Wiesbaden S 11 AS 749/11 ER verwiesen.
Zum 1. August 2011 meldete sie ihr Gewerbe wieder ab. Gegenüber der Beklagten gab sie an, sie sei gewerblich als Raumpflegerin tätig gewesen, habe ihr Gewerbe aber zum 1. August 2011 abmelden müssen, da sie die deutsche Sprache nicht beherrsche und deshalb keine Verständigung mit ihren Geschäftspartnern möglich gewesen sei. Zudem sei sie schwanger und könne ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig sicherstellen.
Nach den eigenen Angaben der Klägerin im Verfahren SG Wiesbaden S 11 AS 749/11 ER erhielt sie im streitgegenständlichen Zeitraum Barzahlungen in Höhe der Mietforderung für die Monate August und September 2011 von ihrem damaligen Freund. Am 30. September 2011 erhielt die Klägerin eine Zahlung der Caritas mit dem Verwendungszweck “Babyhilfe„ in Höhe von 150,-- €. Der Girokontostand betrug am 4. Oktober 2011 0,07 €. Weiteres Einkommen und Vermögen im streitgegenständlichen Zeitraum ist nicht ersichtlich. Die Mutter der Klägerin gab in einer eidesstattlichen Versicherung vom 2. November 2011 an, über kein Einkommen, aber “noch etwas finanzielle Rücklagen„ zu verfügen, aus denen der Lebensunterhalt bestritten werde, sie werde in dieser Woche einen Antrag auf Leistungen stellen. Zum Zeitpunkt der informatorischen Anhörung im Eilverfahren S 11 AS 749/11 ER am 28. Oktober 2011 befand sich die Klägerin in der 24. Schwangerschaftswoche und lebte weiterhin von ihrem vormaligen Lebensgefährten getrennt. Auf die Frage nach gesundheitlichen Beeinträchtigungen gab die Klägerin an, arbeiten zu können. Der Senat nimmt hinsichtlich der Feststellungen zu Einkommen und Vermögen ergänzend auf die Sitzungsniederschrift des Sozialgerichts im Verfahren S 11 AS 749/11 ER, die dort abgegebenen eidesstattlichen Versicherungen (Bl. 49-57,70-80 der dortigen Akte) sowie die Angaben der Klägerin in den Verwaltungsvorgängen der Beklagten Bezug.
Die Klägerin ist im Besitz einer Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 2 Abs. 1, § 5 a.F. i.V.m. § 13 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU), ausweislich derer eine unselbstständige Beschäftigung nur nach Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit nach § 284 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderun...