Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Zugunstenverfahren gem § 44 SGB 10. Unfallversicherungsschutz. kein schriftlicher Arbeitsvertrag. abhängiges Beschäftigungsverhältnis. Schwarzarbeit. Brückenbauarbeiten. Vortrag neuer Tatsachen. Arbeitsunfall. Bindung an Weisungen. Stundenlohn
Orientierungssatz
1. § 44 SGB 10 ist nicht als Präklusionsnorm des Inhaltes zu verstehen, dass nur neu vorgetragene Tatsachen eine solche Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes rechtfertigen. Zwar postuliert der Wortlaut des § 44 Abs 1 S 1 Halbs 1 SGB 10, dass sich eine Entscheidung als fehlerhaft “ergibt„ bzw “erweist„, jedoch wird damit nur festgelegt, dass zur Beurteilung der Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes nicht auf den Stand der Erkenntnis bei Erlass, sondern bei Überprüfung abzustellen ist, weshalb stets eine Rückschau unter Beachtung einer evtl geläuterten Rechtsauffassung auf die zum Zeitpunkt des Erlasses des zu überprüfenden Verwaltungsakts geltenden Sach- und Rechtslage erforderlich ist. Die Rechtswidrigkeit beurteilt sich demnach nach der damaligen Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht. Eine Beschränkung der Überprüfung auf neuen Sachvortrag enthält die Norm de lege lata nicht.
2. Im Rahmen eines Zugunstenverfahrens ist es unerheblich, ob der Verwaltungsakt, der zurückgenommen werden soll, durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (vgl BSG vom 28.1.1981 - 9 RV 29/80 = BSGE 51, 139)
3. Ein vollständiges Schweigen kann nicht mit unrichtigen oder unvollständigen Angaben iS von § 44 Abs 1 S 2 SGB 10 gleichgesetzt werden, da die Norm keinen Sanktionscharakter hat.
4. Zum Vorliegen eines Arbeitsunfalls trotz Schwarzarbeit (hier: illegale Beschäftigung auf einer Brückenbaustelle).
Normenkette
SGB VII § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 7 Abs. 2, § 8; SGB IV § 7 Abs. 1; SGB X § 44 Abs. 1
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt vom 13. Januar 2010 sowie der Bescheid der Beklagten vom 11. Dezember 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 2008 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, unter Aufhebung des Bescheids vom 8. September 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. August 2004 das Unfallereignis vom 10. Juli 2003 als Arbeitsunfall anzuerkennen sowie in gesetzlichem Umfang zu entschädigen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die ihm entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) die Anerkennung eines Unfallereignisses vom 10. Juli 2003 als Arbeitsunfall sowie die Zahlung von Entschädigungsleistungen streitig.
Der Kläger ist 1982 geboren und war zu diesem Zeitpunkt serbischer Staatsangehöriger. Im Dezember 2002 reiste er mittels eines Visums der Deutschen Botschaft in C., welches vom 12. Dezember 2002 bis zum 10. Januar 2003 Gültigkeit hatte, nach Deutschland ein. Das Visum enthielt den Zusatz: “Nur für Besuchs-/Geschäftsreise. Erwerbstätigkeit nicht gestattet„. Der Kläger lebte zunächst bei seinem Onkel in Deutschland. Am 10. Juli 2003 fuhr sein Onkel - Herr D. - mit ihm auf die Brückenbaustelle in der E-Straße in F-Stadt. Dort verlegte er zusammen mit dem Zeugen C. auf der Brücke Armierungsstahl. Dabei geriet der Kläger in Kontakt mit der Oberleitung der unter der Brücke durchlaufenden Linie der Deutschen Bahn AG, als ein Eisenteil der Brücke hiermit in Kontakt kam, wobei der Kläger eine Stromverletzung mit Eintritt an der rechten Hand und Stromaustritt am rechten Fuß sowie am linken Sprunggelenk erlitt. Laut Durchgangsarztbericht vom 14. Juli 2003 von Dr. G. wies das rechte Bein zweit- und drittgradige Verbrennungen über der ventralen und lateralen Seite auf. Am rechten Fußrücken fanden sich drittgradige Verbrennungen mit Strommarken, am linken Sprunggelenk zeigte sich ein Armierungseisen, welches sich durch Strom- und Hitzeeinwirkung in Höhe des dorsales Sprunggelenkes in die Achillessehne eingebrannt hatte und ca. 3 cm tief steckte. Infolge der Verletzungen wurden dem Kläger Gliedmaßen amputiert.
Die Beklagte zog die Ermittlungsergebnisse der zuständigen Ordnungsbehörden bei. Laut Mitteilung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht O. vom 19. August 2003 wurde der Zeuge C. wegen Beihilfe zu einem Vergehen gegen das Ausländergesetz zu 120 Tagessätzen rechtskräftig verurteilt, wobei hierbei der Unfall bei den Brückenbauarbeiten zwar berücksichtigt wurde, sich aber nicht beträchtlich straferhöhend auswirkte.
Durch Bescheid vom 8. September 2003 lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab; der Bescheid wurde durch öffentlichen Aushang bekannt gemacht. Die wesentliche Begründung lautete, es sei lediglich bekannt, dass der Kläger auf der Baustelle Bewehrungsarbeiten durchgeführt habe; da er aber alle Angaben bis auf seinen Namen und sein Geburtsdatum verweigert habe und der Zeuge C. keine Arbeitnehmer beschäftigte, müsse die Beklagte davo...