Dr. Anton Wiedemann, Giulia Novelli
a) Allgemeines
Rz. 34
Die Anwendung einer Regelung eines ausländischen – und sei es auch durch die EuErbVO berufenen – Rechts darf in Ausnahmefällen versagt werden, wenn sie dem ordre public widerspricht. Ein Verstoß gegen den ordre public liegt zweifellos vor, wenn das Erbrecht eines Staates aufgrund von Geschlecht oder Religion diskriminiert, z.B. ein Sohn mehr erbt als eine Tochter.
Rz. 35
Nach Art. 16 it. IPRG bzw. Art. 35 EuErbVO (in deren Geltungsbereich) ist ausländisches Recht nicht anzuwenden, wenn seine Wirkungen gegen den italienischen ordre public verstoßen. Ferner könnte auch Art. 17 it. IPRG einschlägig sein, wonach solche italienischen Rechtsnormen vorrangig sind, die in Anbetracht ihres Gegenstandes und ihres Zwecks trotz der Verweisung auf ausländisches Recht zwingend angewendet werden müssen. Die h.L. sieht bei einem Verstoß gegen die fundamentalen Grundprinzipien der italienischen Rechtsordnung den ordre public als verletzt an. Das italienische Recht selbst enthält keine Qualifizierung des ordre public. Die h.L. nimmt jedoch an, dass der sog. internationale ordre public gemeint ist, d.h. die Gesamtheit der fundamentalen Grundsätze und Werte, die der italienischen Rechtsordnung zugrunde liegen.
b) Ordre public und Pflichtteilsrecht
Rz. 36
Das Pflichtteilsrecht in der italienischen Ausgestaltung als Noterbrecht ist nach h.L. nicht Bestandteil des ordre public; bei der Rechtswahl eines Italieners zugunsten eines ausländischen Rechts war aber früher Art. 46 Abs. 2 S. 3 it. IPRG als Spezialfall des ordre public zu beachten, wonach Angehörigen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Italien ihr Pflichtteilsrecht nach italienischem Recht zusteht. Eine Korrektur dieser Vorschrift i.S.d. ordre public im Sinne von Mindesterbrechten aller Noterbberechtigten kommt wohl nicht in Betracht, da der Gesetzgeber ausdrücklich nur das Noterbrecht von in Italien wohnhaften Angehörigen schützt. Die Missachtung des italienischen Noterbrechts berührt die Gültigkeit der Rechtswahl im Übrigen nicht.
Rz. 37
Fraglich ist, ob diese Schranke noch gilt, wenn sich das Erbstatut nach der EuErbVO bestimmt. Einige Autoren sehen die Vorschrift des Art. 46 it. IPRG als insgesamt aufgehoben. Angesprochen ist damit auch das bereits bekannte Problem des forum shoppings im Pflichtteilsrecht. Kann durch einen Umzug eines italienischen Staatsangehörigen in einen Staat, in dem es kein oder ein weniger strenges Pflichtteilsrecht gibt, das italienische Pflichtteilsrecht umgangen werden? In Bezug auf die alte Gesetzeslage hat der italienische Kassationshof dies in einer Entscheidung von 1996, die aber einen Erblasser, der neben der italienischen auch die kanadische Staatsangehörigkeit besaß, verneint. Das Gericht hat dies mit der fehlenden familiären und privaten Bindung des Erblassers in Italien begründet. Einige Stimmen nehmen über den Wortlaut des Art. 46 Abs. 2 it. IPRG sogar einen Schutz der Pflichtteilsberechtigten an, auch wenn diese den gewöhnlichen Wohnsitz im Ausland haben. Dagegen könnte sprechen, dass darin eine Gesetzesumgehung liegt und das italienische Pflichtteilsrecht – auch verfassungsrechtlich (Art. 42 Cost.) – stark ausgeprägt ist. Andererseits führt die Einführung der EuErbVO durch den italienischen Staat zwingend dazu, dass andere Rechtsordnungen eingreifen können. Das Pflichtteilsrecht gehört unzweifelhaft zum Erbstatut. Argumentieren lässt sich auch mit der europarechtlich geschützten Freizügigkeit und dem Vorrang europäischen Rechts.
Rz. 38
Daraus folgt im Ergebnis, dass das gewählte Recht sich auch auf das Pflichtteilsrecht erstreckt und Art. 46 Abs. 2 it. IPRG bei Geltung der EuErbVO nicht mehr eingreift. Nur ausnahmsweise könnte man unter Anwendung der ordre-public-Klausel (Art. 35 EuErbVO) zu einem anderen Ergebnis kommen, wenn der Erbfall noch einen deutlichen Bezug zu Italien hat, etwa weil große Teile des Vermögens sich in Italien befinden oder eine Umgehungsabsicht des Erblassers (z.B. Wegzug des schwerkranken Italieners kurz vor seinem Tod) vorliegt. Man wird hier die weitere Entwicklung abwarten müssen.
Rz. 39
Nur dann, wenn die berufene Rechtsordnung den Pflichtteil gänzlich oder im wesentlichen Umfang für den überlebenden Ehegatten oder die Kinder ausschießt und auch keine anderen Schutzrechte (z.B. Unterhaltsrecht) zur Anwendung kommen, liegt wohl ein Verstoß gegen den ordre public vor.