Dr. Anton Wiedemann, Dr. Tereza Pertot
1. Allgemeines
Rz. 157
Die Ehescheidung wurde in Italien erst mit Gesetz Nr. 898 vom 1.12.1970 eingeführt. Mit der Familienrechtsreform von 1975 hat der italienische Gesetzgeber die vorgegebene Systematik des Codice civile beibehalten: Im Codice civile (Art. 150–158 c.c.) wird nach wie vor nur die Trennung der Ehegatten geregelt. Für die Scheidung gilt das Gesetz von 1970 mit den durch weitere Gesetze Nr. 436 vom 1.8.1978 und Nr. 74 vom 6.3.1987 eingeführten Neuerungen (folgend: l. div.).
Rz. 158
Die Begriffe "Scheidung" und "Auflösung der Ehe" werden synonym verwendet. Die Scheidung bildet nur einen der Eheauflösungsgründe – wenn auch den häufigsten. Neben der scioglimento del matrimonio sieht Art. 2 l. div auch die cessazione degli effetti civili der Konkordatsehe und der akatholischen Ehe vor. Aus dem l. div. sind folgende Grundlinien zu erkennen:
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Vorrang des Weiterbestehens der Ehe; |
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Anerkennung des Zerrüttungsprinzips; |
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Unabdingbarkeit einer gerichtlichen Entscheidung (keine Privatscheidung); |
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kein Automatismus der abschließend vorgesehenen Scheidungsgründe. |
Rz. 159
Das Verschulden eines Ehegatten bildet keine Voraussetzung der Ehescheidung. So wie für die Scheidung selbst das Verschulden keine Rolle spielt, gilt dies auch für den Anspruch auf nachehelichen Unterhalt. Nur bei der Feststellung der Höhe des nachehelichen Unterhalts wirkt sich nach der Lehre das Verschulden eines Ehegatten aus. Nach Art. 5 Abs. 6 l. div. muss das Gericht bei der Festsetzung der Unterhaltshöhe nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten berücksichtigen, sondern auch die Gründe, die zur Scheidung geführt haben. Darunter fällt indirekt auch das Verschulden eines Ehegatten.
2. Scheidungsgründe
Rz. 160
Die Ehescheidungsgründe (materielle Scheidungsvoraussetzungen) sind in den Art. 1 und 3 l. div. geregelt, wobei Art. 1 in einer Generalklausel das Zerrüttungsprinzip als einzigen Scheidungsgrund nennt, während Art. 3 gesetzliche Vermutungsregeln enthält, wann von einer Zerrüttung der Ehe auszugehen ist. Art. 1. l.div. setzt voraus, dass die geistige und materielle Gemeinschaft zwischen den Ehegatten nicht mehr besteht (aufrechterhalten) und auch nicht wiederhergestellt werden kann. Art. 3 l. div. knüpft die Ehescheidung an das Vorliegen von zumindest einem der dort genannten Gründe.
Rz. 161
Der weitaus wichtigste Scheidungsgrund ist die – gerichtlich oder außergerichtlich – festgestellte Trennung. Die Trennungsfrist beträgt bei streitiger Scheidung ein Jahr und bei einvernehmlicher Scheidung sechs Monate (bislang je drei Jahre).
In den übrigen genannten Fällen handelt es sich um Sonderfälle, die in der Praxis sehr selten vorkommen. Zu diesen Sonderfällen gehören:
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die Verurteilung wegen vorsätzlicher Straftaten (auch vor der Ehe begangener) zu einer Freiheitsstrafe von mehr als 15 Jahren; |
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die Verurteilung für gegen den Ehegatten oder Kinder gerichtete Straftaten (wegen sexueller Nötigung, Prostitution, lebensbedrohender Angriffe = reati contro la libertà sessuale in danno di un discendente, reati in materia di prostituzione in danno di un coniuge o di un discendente, reati contro la vita in danno del coniuge o di un discendente, reati contro l’incolumità personale, reati contro l’assistenza familiare); |
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der Freispruch von einer Straftat in vorstehendem Sinn wegen Unzurechnungsfähigkeit oder Einstellung des Verfahrens; |
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die Auflösung der Ehe im Ausland oder das Eingehen einer neuen Ehe im Ausland; sowie |
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die Nichtvollziehung der Ehe und die Berichtigung der Geschlechtszugehörigkeit. |
Rz. 162
Das Vorliegen der Gründe muss sich entweder aus einem rechtskräftigen Urteil oder einer Trennungsvereinbarung gem. Gesetz vom 10.11.2014, Nr. 162 (siehe Rdn 181) ergeben. Das bedeutet, dass z.B. im Fall des Art. 3 Nr. 2 lit. b l. div. die rein faktische, auch mehrjährige Trennung für den Ausspruch der Scheidung nicht ausreicht. Als automatischer S...