Jugendliche und Heranwachsende im OWi-Verfahren [Rdn 2609]
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Auch im OWi-Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende gilt das allgemeine bußgeldrechtliche Sanktionensystem. |
2. |
Von den Möglichkeiten der Vollstreckungsanordnung kann bereits im Erkenntnisverfahren Gebrauch gemacht werden, indem die Anordnung schon im Bußgeldurteil oder dem Beschluss nach § 72 getroffen wird. Handelt es sich um eine jugendtypische Verkehrsordnungswidrigkeit, kann sich die Anordnung der Teilnahme an einem Verkehrsunterricht anbieten. |
3. |
Es bestehen im OWi-Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende verfahrensrechtliche Besonderheiten, die häufig übersehen werden. |
Rdn 2610
Literaturhinweise:
Artkämper, Zur Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf heranwachsende (Verkehrs-)Straftäter, VRR 2012, 450
Bohnert, Ordnungswidrigkeiten und Jugendrecht. Eine Zusammenstellung, 1989
Fromm, Über Besonderheiten im OWi-Verfahren gegen junge Verkehrsteilnehmer und Fahranfänger sowie verwaltungsrechtliche Folgen, NZV 2016, 57
Krumm, Bußgeldsachen gegen Jugendliche und Heranwachsende, VRR 2005, 413
ders., OWi-Verfahren vor dem Jugendrichter – 10 Fragen und 10 Antworten, NZV 2010, 68
ders., Verteidigung von Fahranfängern nach Alkoholfahrt, NJW 2015, 1863.
Rdn 2611
1. Die Tendenz der Praxis zur rechtstatsächlichen Angleichung jugendrechtlicher Rechtsfolgen an das allgemeine Strafrecht (krit. Eisenberg/Kölbel, § 2 JGG Rn 23 ff. und 64 ff.; Ostendorf, § 2 JGG Rn 13 und § 45 JGG Rn 3; Fromm NZV 2016, 57, 59 [speziell zum Aspekt der Bußgeldbemessung]) findet im OWi-Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende eine bislang wenig hinterfragte Bestätigung. Gegen Jugendliche und Heranwachsende wird nämlich auch in Verkehrssachen prinzipiell unterschiedslos das bußgeldrechtliche Sanktionensystem angewendet (zu der gegenüber Erwachsenen keine Besonderheiten aufweisenden Behandlung eines Entbindungsantrags eines Heranwachsenden nach § 73 Abs. 2 OLG Frankfurt am Main zfs 2012, 291 = NZV 2012, 307; zu dem hiesigen Befund auffällig ähnlichen Praxis der Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf heranwachsende Verkehrsstraftäter Artkämper VRR 2012, 450). Den jugendtümlichen Besonderheiten wird erst auf Vollstreckungsebene Rechnung getragen, insbesondere durch die Möglichkeit einer Vollstreckungsanordnung und der Abwendung von Erzwingungshaft (→ Erzwingungshaft, Rdn 1150) durch den Jugendrichter als Vollstreckungsleiter (§§ 91, 97 Abs. 1, 98 Abs. 1, 104 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. §§ 82 Abs. 1, 83 Abs. 2, 84, 85 Abs. 5 JGG; vgl. BGH, Beschl. v. 4.2.2014 – 2 ARs 388/13; OLG Düsseldorf DAR 2017, 92 = BA 54, 45; Eisenberg/Kölbel, § 82 JGG Rn 29 ff.; zur vorrangigen Zuständigkeit gem. § 42 Abs. 1 Nr. 1 JGG des Jugendrichters, dem die familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben obliegen vgl. BGH NStZ 2012, 575; Eisenberg/Kölbel, § 42 JGG Rn 6).
☆ Demgegenüber scheidet entsprechend § 19 StGB gem. § 12 Abs. 1 S. 1 ein vorwerfbares , d.h. ordnungswidriges Handeln eines noch nicht 14 Jahre alten Kindes aus, weshalb ein Kind weder gem. § 56 verwarnt noch sonst einem Bußgeldverfahren unterzogen werden darf ( Eisenberg/Kölbel , § 2 JGG Rn 65)."vorwerfbares", d.h. ordnungswidriges Handeln eines noch nicht 14 Jahre alten Kindes aus, weshalb ein Kind weder gem. § 56 verwarnt noch sonst einem Bußgeldverfahren unterzogen werden darf (Eisenberg/Kölbel, § 2 JGG Rn 65).
Rdn 2612
2.a) Es ergibt sich schon von selbst aus dem Gesetzeszweck des JGG und anderen zum Schutz von Jugendlichen und Heranwachsenden getroffenen Regelungen, dass von dem auf Jugendliche und Heranwachsende zugeschnittenen Instrumentarium des OWi-Verfahrens – wo immer möglich und sinnvoll – Gebrauch gemacht werden sollte. Insbesondere erscheint es geboten, in allen geeigneten Fällen die Geldbuße (nicht das Fahrverbot, vgl. Rdn 2621) durch die in § 98 Abs. 1 vorgesehenen, allein oder auch nebeneinander anzuordnenden Surrogate zu ersetzen. § 98 Abs. 4 eröffnet die Abwendungsmöglichkeiten nach § 98 Abs. 1 bis 3 grds. auch für Heranwachsende, ohne dass es einer Prüfung i.S.v. § 105 Abs. 1 JGG bedarf (Eisenberg/Kölbel, § 82 JGG Rn 32).
Rdn 2613
b) Anstelle der Geldbuße kann dem Jugendlichen oder Heranwachsenden auferlegt werden,
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Arbeitsleistungen zu erbringen (§ 98 Abs. 1 S. 1 Nr. 1); |
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nach Kräften den durch die Handlung verursachten Schaden wiedergutzumachen (§ 98 Abs. 1 S. 1 Nr. 2), was nach richtiger Ansicht voraussetzt, dass auch zivilrechtlich eine (zweifelsfreie) Verpflichtung zum Schadensersatz besteht (BeckOK OWiG/Nestler, § 98 Rn 19; KK/Mitsch, § 98 Rn 15); |
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bei Verletzung von Verkehrsvorschriften an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen (§ 98 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, näher Rdn 2614 und 2615) oder |
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eine sonstige bestimmte Leistung zu erbringen (§ 98 Abs. 1 S. 1 Nr. 4). Sofern mit der generalklauselartig gefassten Anordnung im Einzelfall dem vielfach auch bei Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht fern liegenden Rechtsgedanken eines Täter-Opfer-Ausgleichs Rechnung getragen werden soll, wird sie nur als sinnvol... |