2.2.4.1 Vollbeweis
Rz. 28
Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen grundsätzlich voll nachgewiesen sein. Dies bedeutet, dass der Unfallversicherungsträger sich grundsätzlich die volle Überzeugung von den beweiserheblichen Tatsachen verschaffen muss. Anspruchsbegründende Tatsachen sind die Tatsachengrundlagen für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls (das Unfallereignis und die versicherte Tätigkeit) oder einer Berufskrankheit (die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß). Auch die Tatsachengrundlagen zur Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs müssen voll bewiesen sein (die unfallbringende Betätigung, der Gesundheitserstschaden und die später eintretende Unfallfolgen).
Rz. 28a
Auch diejenigen Tatsachen, die zur Unterbrechung des inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit durch eine eigenwirtschaftliche Verrichtung oder zur vollständigen Lösung des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit führen, müssen im Vollbeweis festgestellt werden.
Stürzt ein Versicherter von einem Arbeitsplatz auf einem Kran, wo er zuletzt betriebliche Arbeit verrichtet hat, aus ungeklärten Umständen tödlich ab, so entfällt der Versicherungsschutz nur, wenn bewiesen wird, dass er die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Verrichtung unterbrochen hatte (BSG, Urteile v. 26.10.2004, B 2 U 24/03 R, und v. 4.9.2007, B 2 U 28/06 R). Die Ungewissheit darüber, aus welchen Beweggründen der Versicherte noch weitere 10 bis 20 Minuten auf der Plattform verblieben ist und was er dort getan hat, geht zulasten des Unfallversicherungsträgers (BSG, a. a. O.).
Das BSG (Urteil v. 31.1.2012, B 2 U 2/11 R) stuft die im Praxisbeispiel dargestellte Beweisführung allerdings als "Beweiserleichterungen" ein (vgl. dazu Rz. 30).
Rz. 28b
Volle Gewissheit über das Vorliegen einer Erkrankung und deren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit lässt sich jedoch nur selten gewinnen; denn die Reaktionsweise des menschlichen Körpers lässt sich nicht mit mathematischer Genauigkeit bestimmten (Mehrtens/Schönberger/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, S. 118). Daher ist i. d. R. eine Tatsache bereits dann i. S. d. Vollbeweises als erwiesen anzusehen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falls nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hierauf zu gründen. An dieser vom BGH (Entscheidung v. 17.2.1970, III ZR 139/67) geprägten Formel orientieren sich auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit (vgl. BSG, Urteil v. 6.4.1989, 2 RU 69/87; Urteil v. 2.2.1978, 8 RU 66/77). Danach darf und muss der Richter sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.
2.2.4.2 Hinreichende Wahrscheinlichkeit
Rz. 29
Für den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Arbeitsunfall und Erstschaden und Folgeschäden gelten zugunsten der Versicherten reduzierte Beweisanforderungen. Würde man hier den Vollbeweis verlangen, so würde dies i. d. R. zur Verweigerung des sozialen Schutzes führen. Daher lässt die Rechtsprechung für die haftungsbegründende und für die haftungsausfüllende Kausalität die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügen. Voraussetzung dafür ist, dass bei Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt (BSG, Urteil v. 2.2.1978, 8 RU 66/77). Anders ausgedrückt: Es muss mehr für als gegen den Zusammenhang sprechen; ernste Zweifel hinsichtlich des Vorliegens eines anders gearteten Kausalzusammenhangs müssen ausscheiden. Die bloße Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs reicht nicht aus. Die Tatsachengrundlagen zur Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs müssen hingegen voll bewiesen sein.
2.2.4.3 Beweiserleichterungen
Rz. 30
Beweiserleichterungen kommen in Betracht, wenn Eigentümlichkeiten des Sachverhalts dazu Anlass geben. Es handelt sich um Fallgestaltungen, die dem Begriff des Beweisnotstands zugeordnet werden können. Das BSG hat etwa bei psychischen Gesundheitsstörungen herabgesetzte Anforderungen an die Feststellung des Ursachenzusammenhangs gestellt (BSG, Urteil v. 5.8.1987, 9b RU 36/86). Dies bezog sich indes auf die spezielle Konstellation, dass während einer von der beklagten Berufsgenossenschaft veranlassten stationären Behandlung des Klägers eine psychisch bedingte Erkrankung einsetzte und die Frage zu beurteilen war, ob diese als mittelbare Folge des Arbeitsunfalls oder als unfallunabhängige Folge wunschbedingter Vorstellungen aufzufassen war. In der gleichen Entscheidung hat das BSG klargestellt, dass bei der Beweiswürdigung im Fall von Rentenneurosen ein strenger Maßstab anzulegen ist.
Rz. 30a
Eine Beweiserleichterung kommt ferner in Betracht, wenn durch eine unfallbedingte Erinnerungslücke des Verletzten ein Beweisnotstand eintritt oder der Versicherungsträger die zur S...